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Für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum Prisma
 

Im Prisma wird kein alter Zopf gepflochten
Die Vorgeschichte - Teil I

Schalldichte Wände absorbieren die donnernden Beat-Phonwellen vom „sloopy" nebenan. Isolierte Decken schlucken das Rollen ruhiger Kugeln auf der Bowling-Bahn im Stockwerk darüber. Zu ebener Erde vollzieht sich die Kommunikation der jungen Leute um Nuancen gedämpfter. Im „Prisma"-Klub, einer Jugendpflegeeinrichtung im Reinickendorfer Freizeitzentrum am Kurt-Schumacher-Platz, geht es maßvoll zu, bleibt die Geräuschatmosphäre im allgemeinen dezent. Mit 80 000 DM finanzierte das Bezirksamt die moderne, zweckmäßige, geschmackvoll abgestimmte Innenausstattung, die sich in ihrem Komfort durch eine exklusive Note wesentlich vom Stil in den Jugendfreizeitheimen abhebt.

Im April 1967 eröffnete „Prisma" als kulturell-politisches Forum. Seine spezifischen Funktionen entschlüsseln sich aus seinem Namen, dem aus der Geometrie, Optik und Fotografie entlehnten Begriff „Prisma". Wie Glasprisma Licht anzieht und es in die Spektralfarben zerlegt, will der „Prisma"-Klub die jungen Erwachsenen aus allen sozialen Gruppierungen unserer Gesellschaft an sich ziehen, ihre Bedürfnisse kennenlernen und den vielseitigen Interessen in einer buntschillernden Programmpalette gerecht werden. Das ist offensichtlich bereits gelungen. Gleich hinter der gläsernen Pendelpforte fällt der erste Besucherblick auf die unterschiedlichsten Ankündigungen. Neben einem Protestflugblatt erläutert ein Miniplakat die Konzeption der „Kritischen Universität" in Stichworten, offeriert das „Reichskabarett" sein laufendes Programm, lädt der „Klub für politische Gespräche" ein und bietet schließlich die URANIA ihre kulturellen Kostbarkeiten an. Als optischen Blickpunkt arrangiert und improvisiert die „Prisma"-Galerie Kunstausstellungen. Da stimuliert dann eine bizarre Plastik oder eine skurille Graphik die Phantasie der Betrachter, provoziert eine Radierung den Widerspruch oder weckt ein gelungener Holzschnitt die im Verborgenen schlummernden schöpferischen Eigenkräfte zu künstlerischen Erstlingsversuchen. Selbst wenn eine Lithographie nur schockierte oder heftige Streitgespräche auslöste, wäre der Ausstellungszweck bereits erreicht und der Laie mit Stilrichtungen und Elementen in der modernen Kunst konfrontiert worden. Zumindest bietet die Thematik der gezeigten Arbeiten viele Ansatzpunkte für vertiefende Erörterungen, denen sich selbst jene Zufallsbesucher, die nur mal neugierig hereinspaziert waren, weil der Betrieb im „sloopy" noch nicht auf vollen Touren lief, nur schwer entziehen können.

Wen dennoch die Kunstobjekte gleichgültig lassen, den fesselt möglicherweise der Billardtisch im Spielzimmer. Ein anregender Espressoduft aus der Cafeteria lädt auf angenehme Weise zum Verweilen und auch zum Wiederkehren ein. Vielleicht reizen auch zahlreiche interessante Zeitschriften, die in der Leseecke vor eleganten Sesselgarnituren und Schaukelstühlen ausliegen, oder es lockt eine Schachpartie, bei der man sich die Zeit vertreiben kann. Für die jungen Damen wurde ein Kosmetiksalon eingerichtet, in dem sie ihr Make-up auffrischen können. Die Musikfans können im Stereoraum beliebte Hits per Tonband — gesteuert auf einer mit technischen Raffinessen ausgestatteten Übertragungsanlage — hören, Schallplatten auflegen (nach 22 Uhr wird häufig das klassische Repertoire bevorzugt). Im Fernsehraum guckt man gemeinsam in die Röhre, wenn ein künstlerisch wertvolles Fernsehspiel Über den Bildschirm flimmert, das Anlaß zu Diskussionen bietet. Ein reichhaltiges Getränkesortiment vom Bier bis zum Sekt belebt die Plaudereien an der Bartheke. „Es ging uns darum, auch in dieser Beziehung ein glaubwürdiges Angebot zu unterbreiten", sagt dazu Reinhold Lipke, der gegenüber dem Bezirksamt die Hauptverantwortung für „Prisma" und seine Gäste — die „Prismologen" — trägt. „Wir wollten bewußt vermeiden, hier etwa in Coca-Gemütlichkeit abzufallen", fügt er mit sanfter Stimme hinzu.

In der weiteren Unterhaltung steuert dieser bärtige erste „Prismaner" gezielt auf die Problematik zu, die ihm besondere Kopfschmerzen bereitet. Das sind jene Zufallsbesucher der jüngeren Jahrgänge (etwa bis 18 Jahre), die im „Prisma" Freizeitbetrieb im herkömmlichen Sinne erwarten. „Ich suche nach einer Methode, auch diese Gelegenheitsbesucher auf der Ebene offener Gespräche für unsere Programme zu gewinnen und sie damit fester an „Prisma" zu binden. Aber wir sind hier leider nur zwei Sozialarbeiter. Mindestens die doppelte Besetzung wäre erforderlich."

Seiner ursprünglichen Konzeption als Bildungszentrum entspricht „Prisma" jeweils an den Wochenenden in seinen Schwerpunktprogrammen. Freitags sind sie gesellschaftspolitisch akzentuiert, an den Sonnabenden haben sie mehr unterhaltenden Charakter. Aber immer ist man bestrebt, ein überdurchschnittliches Niveau zu erreichen und zu halten. In diesem Punkt bietet sich ein Vergleich mit dem Wilmersdorfer Gegenpol, dem dortigen Klub ca ira, an. Die politisch engagierten ca-ira-Barackenrevoluzzer werden solche Parallele zwar schroff zurückweisen und den „Prisma"-Luxus als dekadenten bürgerlichen Kultursnobismus abqualifizieren. Die ,,Prisma"-Leute sind da konzilianter. Sie würdigen die ca-ira-Bestrebungen und lehnen Pauschalurteile wie „Ge-heimbündler" und „Verschwörernetz" für den ca ira entschieden ab. Divergierende Unterschiede von Klub zu Klub bestehen in der Besucherstruktur. Ca ira ist als ideologisierter outpost der Ultralinken berüchtigt. „Prisma" dagegen gilt als ein wertfreier Treffpunkt für Anspruchsvolle ohne einseitige weltanschauliche Orientierung. Ins „Prisma" strömen die jungen Arbeiter ebenso wie die Studenten und die Angestellten. Zwei Drittel kommen aus Wedding und Reinickendorf, der Rest verteilt sich auf die anderen Berliner Bezirke, die Stammgäste stellen nur einen geringen Anteil von 20 Prozent am Besucherkontingent.

„Prisma" ist brechend voll, wenn das angebotene Programm aktuell ist und junge Menschen unmittelbar anspricht. Ein Folklore-Abend erreichte bisher den Besucherrekord, moderne Lyrik dagegen lockte nur etwa 30 Interessierte an. Themen aus dem sexual-pädagogischen Bereich gehören zu den gefragtesten, weil sie offen mit bewährten Fachleuten diskutiert werden können. Das gilt auch für die politischen Fragen, die in Foren behandelt werden, die Notstandsgesetze zum Beispiel, der Arbeitskampf in der Demokratie, die Oktoberrevolution und die Ereignisse des 2. Juni. Sogar der Spiritus rector des SDS drängte im „Prisma" seine Kontrahenten aus den Parteien nicht militant von den Mikrophonen weg, sondern bedrängte sie durch geistige Munition mit Argumenten.

Es hat sich schon heute herumgesprochen, daß man im „Prisma" nicht schwafeln kann, Blah-blah-Phrasen kommen nicht an. Dort werden die Experten, aus welchen Richtungen sie auch kommen mögen, von einem aufmerksamen, sachkundigen Auditorium gefordert, dort müssen sie konkret werden und glashart Rede und Antwort stehen, jeweils am toten Punkt bricht das Podiumsgespräch ab. Dann werden die Referenten den „Prismologen" in Debattierzirkeln zum Fraß vorgeworfen und in die Zange genommen. Wer da nicht sattelfest ist, kippt um und lernt das Fürchten. Wer aber etwas zu sagen hat, gleichgültig, ob man ihm zustimmen kann oder nicht, erringt die Achtung seiner Zuhörer vor seiner geistigen Leistung, vor dem Wissen, das sie reflektiert. Man lernt sich so in Tuchfühlung gegenseitig respektieren, man hört dem anderen endlich einmal zu, und man ersetzt das in Mode gekommene Happening durch Sachinformationen und Intelligenz.

Seinen Erfolg verdankt „Prisma" keinem „Rat der Weisen", sondern einem offenen Gremium von Programmierern, das sich aus den Klubbesuchern gebildet hat. Zwar sind auch zwei verantwortliche „Prismaner" und zwei Mitarbeiter des Jugendamtes vertreten, die Majorität aber haben die Klubgäste. Ihre mit Mehrheit beschlossenen Programmvorschläge werden auch realisiert. Die hohe Besucherbeteiligung bestätigt die Richtigkeit ihrer Programmauswahl.

Heute schon kann die Reinickendorfer Jugendstadträtin Ilse Reichel auf Befragen spontan zugeben, daß die öffentlichen Mittel für „Prisma" keineswegs verplant waren, sondern sinnvoll investiert wurden. „Zwar ist der Klub noch nicht in all seinen Funktionen erfolgreich, in jedem Fall aber in seinem Programmangebot", sagt Ilse Reichel und begründet es: „Weil sie dort ehrlich miteinander reden, weil kein alter politischer Informationszopf geflochten wird, sondern unbekümmert heiße Eisen und Tabus angepackt werden, weil unterschiedliche Ansichten hart, aber fair aufeinanderprallen und weil die jungen Leute schließlich selbst bestimmen können, worüber sie reden wollen." Wer das skeptisch anzweifelt, möge hingehen und sich selbst überzeugen. Am ö.Januar startet „Prisma" ins neue Jahr.

e. r.

 

  • Blickpunkt Nr. 166 - Januar 1968 S. 42f

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