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Archiv Rock und Revolte
Texte

 

Swinging - organisierte Massenbetäubung

von Frank Unger

„England ist in" — die Zahl junger Leute, die alljährlich — oder allsommerlich - vom Kontinent her sich auf die britischen Inseln ergießt, ist Legion. In kein europäisches Land reisen so verhältnismäßig viel junge Leute, für deren Väter dasselbe Land entweder ein Buch mit sieben Siegeln oder Gegenstand wüster Klischeevorstellungen ist. Der Grund: es gibt einen England-Mythos, der beinahe überall auf dem Kontinent verbreitet ist, dem zufolge hier auf der Insel die junge Generation auf dem besten Wege ist, das zu schaffen, wovon die kontinentale Jugend immer noch nur träumen kann: die Emanzipation von der Welt der Erwachsenen. Wir sind der Dichtung und der Wahrheit des neuen „Swinging England" einmal nachgegangen und wollen folgenden Beitrag zur Diskussion stellen. (Vorbemerkung der Redaktion)

Es leben zur Zeit in England etwa 8 Millionen junger Leute zwischen 15 und 24, die, fast zu banal es zu sagen, selbstverständlich keine einheitliche Gruppe bilden, sondern entsprechend der übrigen Bevölkerung sehr verschiedenen Klassen angehören und demnach sehr verschiedene Probleme haben. Diese unterschiedlichen Probleme spiegeln sich denn auch in den einzelnen Strömungen der englischen „Jugendbewegung", die ja ihre eigene Geschichte hat bis zum augenblicklich jüngsten Stand der „flower-power"- und „hippie"-Bewegung. Wir haben versucht, ihren Spuren soweit wie möglich nachzugehen.

Es fing an kurz nach dem Krieg mit den Banden, den „gangs". Diese „gangs" repräsentierten einen natürlichen Ausdruck der englischen Arbeiterjugend nach dem 2. Weltkrieg. Verurteilt, zu leben (und zu sterben) in Städten, die, vom Äußeren her, eher Sträflingslagern glichen (etwa Liverpool, Manchester oder bestimmte Teile Londons), ohne reelle Chance, mehr zu werden als ihre Väter und aus dem Milieu herauszukommen (wie Eric Burdon von den „Animals" seinem Mädchen ja verspricht: „We got to get out of this place"), war das Leben in der „gang" die Lebensform, die die Jungen die Aussicht auf die trübe Zukunft vergessen ließ. Wer erlebt hat, wie sich (auch heute noch) z. B. in Glasgow auf einer der großen Werften im strömenden Regen morgens um 7 Uhr das große schmiedeeiserne Eingangstor hinter dem letzten Arbeiter schließt, um sich bis Feierabend nicht mehr zu öffnen, den kann das wie ein Alptraum tagelang verfolgen. Die Söhne dieser Männer nun, die da tagsüber gefangen sind, für die das gleiche Schicksal unvermeidlich ist, führten blutige Bandenkämpfe, Straßenschlachten mit der Polizei u. ä., weil die immerwährende Aussicht auf irgendeinem Kampf, irgendein „Ereignis" die Droge war, die sie ihr Schicksal wenigstens solange, bis es sich noch nicht erfüllt hatte, vergessen ließ.

CND

Diese Arbeiterrevolte der „gangs" ist, grob schematisiert, der eine Strom der aufsässigen Jugend — der andere wurde in der Hauptsache von Söhnen aus der Mittelklasse getragen und hat die Insignien CND = Campaign for Nuclear Disarmament. Für einen großen Teil der englischen Jugend wurde „die Bombe" zum Symbol — nicht nur für den Atomtod, sondern gleichzeitig für alle anonymen Mächte eines bürokratischen, unpersönlichen Staatsapparates, der die Leben der einzelnen bestimmt und kontrolliert und auf den kein Einfluß auszuüben ist. Aufgekommen um die Mitte der 50er Jahre, als die Linke überall in Westeuropa nach dem Ungarn-Aufstand nach neuen Wegen und Formen suchte, wurde die Haltung dieser Bewegung streng moralisch und im Grunde unpolitisch, doch war sie zeitweise durchaus eine Massenbewegung. 1961 kamen zur Abschlußkundgebung des Ostermarsches über 100000 Menschen in den Hyde-Park. Das war der Höhepunkt, und seitdem zeigt die CND-Bewegung, trotz zahlreicher Ableger im übrigen Europa, darunter auch Westdeutschland, fallende Tendenz.

POP-Music

Zu diesen beiden Slrömen jugendlicher „Rebellion", die weniger wegen ihres im Grunde ja „defensiven", keine bewußt revolutionäre Alternative bietenden Charakters, doch wegen ihres Massenausmaßes eine relative Bedrohung des Establishment darstellten, stieß ein dritter: die „Pop"-Musik. Dazu muß man wissen, daß Pop-Musik, also „Schlagermusik", wie wir sagen würden, in England eine viel stärkere Bedeutung und Wirkung hat als z. B. bei uns. Die Größen der Schlagermusik waren schon immer in England Nationalheroen — und es ist in England bis heute keineswegs eine Bloßstellung, wenn man sich dazu bekennt, daß man Pop-Musik mag. Mitte der 50er Jahre nun, als die westliche Welt sich im Rock-'n'-Roll-Fieber befand, begann in den großen Städten, vor allem des Nordwestens, ein bemerkenswerter Wechsel der Betäubungsmittel für die Jugend: Die Skiffle-Bewegung, Vorläufer der späteren (dann kommerzialisierten) Beat-Bewegung, kam auf. Tausende und aber Tausende von Arbeiterjungen kauften sich Gitarren und fingen an zu üben. Auch die Beatles muß man zu dieser Bewegung zurechnen.

Die alten „gangs" lösten sich auf in verschiedene „Skiffle-Gruppen", aus denen dann später die Beat-Gruppen wurden. Doch eigentlich soziale Bedeutung gewann die Skiffle-Bewegung erst mit dem plötzlichen phänomenalen Erfolg der Beatles. Ihr Beispiel ermunterte die zweite Welle der Gitarrenkäufer, und nach ihrem Beispiel wurden immer neue Gruppen gebildet. Das Entscheidende am Vorbild der Beatles war ihr Alter und ihre Herkunft: Kaum älter als sie selbst und aus gleichen Verhältnissen stammend wie Millionen Arbeiterkinder aus dem Norden, waren sie dennoch auf dem Weg zum großen Geld. Vier aus ihrer Umgebung machten mit dem, was sowieso schon viele auch taten, nämlich Rock-'n'-Roll-Musik, ihr Glück. Das ökonomische Vorbild der Beatles inspirierte, nicht das musikalische. Der Effekt war, daß den Jungen plötzlich eine Chance gegeben wurde, eine handfeste, ehrliche Chance, auf legale Weise aus ihren zermürbenden Gettos auszubrechen — und man nutzte sie. Viele Eltern in Liverpool kauften ihren heranwachsenden Söhnen im zarten Alter Gitarren und ermunterten sie, mit drei bis vier Freunden zu üben und so vielleicht „ihr Glück" zu machen — wenn sie sich dabei die Haare wachsen lassen mußten, um so besser: sparte man den Friseur. Die langen Haare der „Gründerzeit" waren beileibe kein „Protest" gegen die Eltern — die saßen ja in derselben ver-haßten Tretmühle —, sondern eine notwendige Zutat zum Erfolg. Vorher, freiwillig, trug man Elvis-Frisuren oder Ente. „Beat killed the Gang" stellten Soziologen, Psychologen, Pädagogen und Politiker froh übereinstimmend fest. Es war gelungen, durch einen Glücksfall, die unterste und für das Establishment „problematischste" Schicht des ständestaatlich-spätkapitalistischen Englands, oder die, im Soziologenjargon, „am wenigsten angepaßte": die Arbeiterjugend der großen Städte, elegant in das Gesamtsystem zu integrieren. Vorerst wenigstens. Die frustrierte, verachtete, ohne wirkliche Aussicht auf eine bessere Zukunft lebende Jugend in Liverpool, Manchester, Blrmingham sah die Chance, sich zu befreien, und arbeitete in Massen darauf hin — eine sozial ungefährliche Droge des Vergessens der realen Situation, nämlich der, daß die englische Gesellschaft mit ihrem Schulsystem und ihrer anachronistischen Struktur bis heute dem Großteil der Jugend nichts zu bieten hat außer dem niederdrückenden Leben in den unsagbar eintönigen Arbeitervierteln der großen Städte mit dem Fußball-Match am Wochenende oder vielleicht einer Karriere als Berufssoldat (Werbung der R.A.F.: „Shut in by a Job with no future? Break out, and get yourself a real career: Flying).

Protest-Song

Doch die Einpassung wäre nicht vollkommen, wenn man nicht auch bestimmten Elementen aus der CND-Bewegung Gelegenheit gegeben hätte, sich mit der Gesellschaft, Verkörperung der verhaßten „Bombe", zu arrangieren. Und siehe da — auch dort fanden sich ein paar begabte Musikanten, die man verwenden konnte. Noch vor ein paar Jahren hatten sie mit ihrer Klampfe die Ostermarschierer bei Teepausen mit pazifistischen Liedern unterhalten — heute haben dieselben (z. B. Donovan) Leute ihre Songs von damals rhythmisch etwas aufgemöbelt und tragen sie der Nation über TV vor; der „Protest-Song" wurde ein wesentlicher Zweig der kommerziellen Pop-Musik.

Die englische Jugend unserer Tage ist politisch uninteressierter und wirkungsloser denn je. Sie verkörpert den Typ, wie er in einem Cartoon vorkommt, den ich im „Daily Mirror" vor ein paar Wochen fand: Ein Mädchen, nach Aussehen unrf Aufmachung „in", stürzt aufgeregt in ein Zimmer, in dem ein zweites Mädchen sitzt und den Klängen aus einem Transistorradio lauscht, und ruft: „Rate mal, was wir heute in der Schule gelernt haben. Es gibt ein Land, das nach Radio Luxemburg benannt ist!" Das Traurige, beinahe Makabre an diesem Witz ist, daß er durchaus so wirklich geschehen sein könnte bzw. daß dieses Mädchen schon zu den wenigen gehört, die wissen, daß es außer Radio Luxemburg noch ein Land gleichen Namens gibt — die neuen Götter in England, die ,,D3s", vermitteln jedenfalls keinerlei Wissen über das von Markenartikeln hinaus. Im Gegenteil — sie haben eine geradezu einmalig zwecksichere Technik der „verbindenden Worte" entwickelt, die auch nicht eine Spur vom Ziel, etwas zu verkaufen, abweicht. Es ist eine Art sanfter Gehirnwäsche — ein Ausblick eher auf das Modell der „Brave New World" von Huxley als auf das von Or-wells ,,1984", aber nicht weniger wirkungsvoll. Radio Caroli-ne, der bekannteste und beliebteste, mittlerweile einzig überragende Piratensender vor der englischen Küste, ist der große Protagonist. Die Discjockeys dort sprechen etwa so — Beispiel einer Zwischenansage frei übersetzt —: „Und jetzt hob' ich das Gefühl, das deutliche innere Gefühl, daß jemand ganz besonders zuhört, jawohl, das bist du, Linda. Dein Brief war ganz wundervoll, alles in deinen eigenen Worten, was du über deine Freunde und Schlager und überhaupt alles so denkst, ich glaube, es ist phantastisch, wirklich, ich mag solche Briefe ganz besonders, die ihr mir schickt, und ich weiß, daß es euch von den Sitzen reißt, wenn ihr jetzt, an diesem herrlichen sonnigen Nachmittag, die nächste Nummer hört, diesmal von einer ganz besonders sympathischen jungen Gruppe auf . . ." (folgt Name der Schallplattenfirma).

Namen, Anordnung der Wörter usw. können wechseln, die Vokabeln und damit der Sinn kaum — und alles 16 Stunden am Tag. Die DJs sprechen, als ob sie sich im ständigen Pervitinrausch befinden — nur so wird der Charakter der „swinging-type-station" gewahrt und gleichzeitig der im Grunde absolute Nonsens der Ansagen übertönt. Vermutlich würde der D], der versuchte, eine seine „Swinging, sunny-type"-Ansagen mit normaler Stimme und normaler Betonung zu machen, so lachen müssen, daß der Werbeeffekt, und nur darauf kommt es an, verlorenginge.

Love, money, fun

Life ist fun, swinging, hektisch, bunt, aufregend, abwechslungsreich — das wird so oft beschworen, daß es schon wieder verdächtig ist. Das Horoskop für Teenager im Pop-Magazin „Ra-ve" ist unterteilt in die Rubriken ,,love", „money" und „fun" — sinnbildlich für die plastische Dreidimensionalität eines modernen, aufgeschlossenen jungen Menschen unserer Tage. Eine derartige Reduzierung jugendlichen Menschentums wird ja nicht einmal in „Bravo" oder „twen" angestrebt. Die unglaubliche Verfälschung, die hierin zutage tritt, findet ihre optisch wahrnehmbare Entsprechung in der unwahrscheinlichen Ausdruckslosigkeit der Gesichter der englischen Mädchen, die man in den Zentren des „Swinging London" antrifft. „Personality" — etwas, das selbstverständlich jeder erstrebt — wird durch Lidstrich erzeugt, wie man den modernen jungen Engländerinnen versichert — und sie glauben es, sie glauben es. Hören wir, was Tom NAIRN im „New Statesman" vom 11. August 1967 vom Standpunkt eines linksintellektuellen Engländers mit verletztem Nationalstolz über das „Swinging England" zu sagen hat: „Großbritannien, das einzige Land, dessen jüngster Abfall in die Mittelmäßigkeit und den Bankrott von einzigartiger Bedeutungslosigkeit für andere ist, und das daher der Welt nichts zu sagen hat, wird mehr und mehr zur ,Mode' und wird selbst modebewußter als je zuvor. Wenn jeder mögliche Inhalt fehlt, wird die Form über alles wichtig. Alles, worüber wir uns wirklich unterhalten können, ist die Erfahrung, das überflüssigste Land in Europa zu sein — gleichwohl streuen die Beatles, 007, Twiggy und Carnaby Street ihr Licht aus unserem Vakuum in die Nordsee. Die Verantwortlichen in unserem Land sagen seit Jahren, daß sich die Dinge wirklich ändern müssen; und da die archaischen, realen Strukturen unserer Gesellschaft wirkliche Änderung verhindern, muß alles so scheinen, als ob es sich ändere. Dies ist der bedauerliche Zusammenhang zwischen unseren verfestigten, alten Mustern von zeitloser Dauer und der aggressiven neuen Public-Relations-Kultur, deren Prinzip die Vergänglichkeit ist und die die neuen Muster ersetzt hat. Beides sind Formen künstlicher Rauschmittel. Mode war einst das Vorrecht einer kleinen Klasse — im Zeitalter des Spätkapitalismus kann sie zur universellen Form der Entfremdung werden: zum industriell organisierten Verlust der Realität, getarnt als die heißhungrige und kom-promißlose Aneignung der Realität."

Transzendentale Meditation

Nun besteht ja kein Zweifel, daß der Standpunkt, von dem aus diese Analyse vorgetragen wird, selber der Analyse bedarf: Denn es ist beispielsweise nicht einzusehen, warum Großbritannien, nachdem es ein imperialistisches Weltreich verloren hat und augenscheinlich nicht mehr „die Wellen regiert", nun gleich das überflüssigste Land Europas werden muß — aber diese Meinung von Mr. NAIRN geht uns nichts an. Vielmehr hat er darüber hinaus in wenigen Sätzen ausgedrückt, mit welchen Mitteln eine verfilzte spätkapitalistische Leistungsgesellschaft ihre sozialen Probleme löst; indem sie einen eigenen integrierten Industriezweig entstehen läßt — eine widerliche Riesenmaschinerie der organisierten Massenbetäubung.

Diese Behauptung läßt sich durch die chronologische Folge der „Kulte" des jungen England belegen: Der erste Kult war das reine Hören. Man ging in die Keller, wo die Gruppen spielten, stellte sich vor die Akteure und ließ sich die Ohren vollbumsen, daß die Grenze zum physischen Schmerz nahe war. Dann begann man zu trinken und schließlich LSD zu schlukken und Marihuana zu rauchen. Und als letzte und jüngste Stufe, immer den Massen von ihren Protagonisten vorexerziert, lautete: Transzendentale Meditation.

„Gott suchen" und „den Sinn des Lebens" entdecken ist die neueste Masche der erfolgreichsten Vertreter des „Swinging England". Offenbar meint man, dem Establishment zeigen zu müssen, daß man durchaus nicht gottlos sei, wenn man natürlich auch von den „überlieferten Formen des Kirchenglaubens" nichts hält. Möglichst fernöstlich muß es sein, wohl anknüpfend an den Zeu-Buddhismus der amerikanischen Beatniks aus den 50er Jahren. Die Beatles unterhalten sich, gemeinsam mit ihren Damen, mit dem indischen Yogi Maharashi, ihm im gepflegten Heim John Lennons zu Füßen, selbstverständlich auf kostbaren Kissen, sitzend, über „Gott" und „die Liebe" und den „Glauben" und nennen das „transzendentale Meditation". Für einen Wochenlohn, das Eintrittsgeld in den Zirkel des Meisters, wollen sie ihm einen Tempel in Nordindien bauen. Und daheim, in Liverpool, in den verrotteten Häusern der Vorstädte, mögen einige Youngster sich verzweifelt gemäß ihrer Vorbilder bemühen, herauszufinden, was „transzendentale Meditation" ist — hoffentlich stoßen sie bei der Suche nicht auf die sozial wesentlich gefährlichere Methode der „realen Reflexion".

Doch das ist so gut wie ausgeschlossen. In einem Buch von David Cante („Die Linke in Europa") fand ich folgende Sentenz: „Es bedürfte des Werks eines Genies, um den schwierigen Komplex von sozialen Hemmungen, vorgesehenen Sicherheitsventilen und Erholungsmöglichkeiten, wirtschaftlichen Beziehungen ... zu analysieren, der den englischen Arbeiter dazu brachte, seine Enttäuschungen in nonkonformistischen Kirchen, auf Fußballplätzen, in Wirtshäusern und patriotischen Gesängen auszuleben." Dieses .Ausleben" fängt bei den Kindern der englischen „Working-class" im zarten Pubertätsalter an und erreicht sehr oft die Grenze des Kriminellen: Bei einem gewöhnlichen Liga-Match in Liverpool, das ich besuchte, wurden im Laufe der Begegnung etwa 25 Leute verletzt auf Bahren hinausgetragen, meistens Jungen zwischen 15 und 20 — ein ganz gewöhnliches Vorkommnis. An jedem Spieltag werden irgendwo jugendliche Zuschauer verhaftet, weil sie gefährliche Waffen bei sich tragen: Feststehende Messer, Totschläger oder auch Fahrradketten. Meistens sind es die Fans der Gastmannschaft, die, in Horden mit Sonderzügen herangeschafft, nach einer Niederlage ihre Abneigung gegen den gastgebenden Verein und dessen Stadt zum Ausdruck bringen. In Preston ist es passiert, daß Jugendliche aus Blackburn nach der Niederlage ihres Teams durch die Straßen zogen und spielende Kleinkinder angegriffen und mit Steinen und Eisenstücken beworfen haben, um es dem „gottverdammten Preston und seiner Brut zu zeigen".

Flower-power

Man braucht gar kein Psychoanalytiker zu sein, um sich vorstellen zu können, welche Enttäuschungen, Frustrationen und sittliche Verwahrlosung nötig gewesen sein muß, 17- bis 18jährige dazu zu bringen, ihr Mütchen an 5- bis 6jährigen auf diese Weise zu kühlen. Ähnliche Fälle, die sich in jüngster Zeit häuften und schon zu einer Anfrage im Unterhaus geführt haben, laufen in England unter dem Namen „soccer-hooliga-nism" — als ob etwa der „Soccer" (Fußball) ursächlich damit zu tun hätte. In Wirklichkeit ist der „Soccer-Hooliganismus" nichts weiter als das Wiederaufleben der alten Gangs in anderer Form.

Denn: Die Beat-Bewegung ist kommerzialisiert und etabliert — der Markt ist so gut wie gesättigt, und neue Gruppen können nur sehr schwer Fuß fassen, es sei denn, sie kreieren einen sensationellen neuen Sound, wie „Procul Harum", oder sie haben von Anfang an Protektion und bereits etablierte Manager hinter sich, wie die „Monkees". Somit ist der Ansporn für Tausende junger Amateure verloren, und da sich im ganzen nichts geändert hat in England, brechen die alten Symptome wieder hervor.

Das Fazit dieser ganzen Betrachtungen soll sein:

1. Es gibt keine einheitliche ,,junge Generation" in England, sondern selbstverständlich völlig verschiedene Schichten und Klassen.

2. Sie alle haben gemein, daß sie ihre Entbehrungen und Versagungen durch künstliche ,,Rauschmittel" aller Art (vom Beat über Mode bis zum LSD) betäuben lassen — ohne wirkliche (politische und soziale) Alternative zum System der Alten. Sie reduzieren einen möglichen Emanzipationskampf auf einen bloßen Generationengegensatz. Einzig und allein an der „London School of Economics", einem Elitekollege für soziologische, wirtschaftswissenschaftliche und politische Studien, hat sich in jüngster Zeit so etwas wie kritisches Bewußtsein vermittelt, d. h. ein Bewußtsein, das nicht bewußtlos alle Gegebenheiten des gesellschaftlichen und politischen Lebens als notwendig, weil eben vorhanden, hinnimmt. Aber das ist, bis auf sektiererische Zirkel an anderen Universitäten abgesehen, alles — die erdrückende Mehrheit der Studenten strebt getreu angelsächsischer Ideologie nach privatem Aufstieg — bis, ja bis auf die Ausnahmen der ,,flower-power"-Bewegung.

Die Frage, ob die Hippie-Bewegung, die in England augenblicklich starke Schlagzeilen macht, irgendeine politische oder soziale Bedeutung hat oder haben kann, wird sehr verschieden beantwortet. Auf jeden Fall verstehen sich die Hippies selbst als unpolitisch, wenn andererseits auch das Vorhandensein einer Anzahl junger Leute, die in ihrer Lebensweise bestimmte Werte der bürgerlichen Gesellschaft leugnet, eine gewisse optische Wirkung erzielen mag. Im allgemeinen mag man die Hippies, und wenn sie nicht gerade den eigenen Sohn oder die eigene Tochter zum Rauschgiftgenuß verführen, hält man sie eben für ,,harmlos". Außerdem werden sie gewissermaßen durch Überpublizität neutralisiert. Beinahe täglich kann man in englischen Zeitungen von skurrilen Hippie-Hochzeiten, Versammlungen, Happenings oder dergleichen lesen — und es ist abzusehen, wann die ersten besonders avantgardistischen die Tycoone einer neuen, wie auch immer gearteten Hippie-lndustrie geworden sind. Somit sehen wir, daß in England jede Protestbewegung, jede Art von Unbehagen an der Gesellschaft beste Aussichten hat, zu einem Industriezweig zu werden. Statt irgend etwas zu sagen, singen die „Monkees": „We're the young generation, we've got something to say", was von geradezu monströser Lächerlichkeit ist. Das Beschwören der „jungen Generation", die angeblich soviel anders, soviel aufgeschlossener, fortschrittlicher als die ältere sei, ist vergleichbar etwa einem tönernen Riesen, der sich fortwährend selber auf die Schulter klopft, damit kein anderer merkt, daß er innen hohl ist. Das einzige, was das junge England an gesellschaftspolitischen „Leistungen" aufzubieten hatte, war der Jagger/Richard-Prozeß wegen Rauschgiftmißbrauchs. Der wurde denn auch sofort mit dem „Jeanne-d'Arc-Prozeß" verglichen, was einmal mehr zeigt, daß die Selbstparodie wohl die stärkste Seite des „swinging England" ist. Wir warten auf den nächsten Film von Richard Lester mit den Beatles.

Quelle:  Der Text wurde entnommen aus BLICKPUNKT Nr. 166, Januar 1968, S.28ff

 

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