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Archiv Rock und Revolte
Texte

 

Eine zufällige Folge von Ereignissen
Wie es zu den "Rolling Stones" kam

von Roy Carr

Alexis Korners Blues Incorporated im Londoner Marquee Club  (1961): v. 1. n. r. Dave Stevens, Piano, Dick Heckstall-Smith, Saxophon, Alexis Korner, Gitarre, Jack Bru.ce, Bass, Mick Jagger, vocals, Cyril Davies, Blues-Harmonika, und Charlie Watts (verdeckt), Schlagzeug.
 

Als Guy Peellaert in seinem Bildband Rock Dreams die Rolling Stones "ledergekleidete Transvestiten, faschistische Kinderschrecks und ausschweifende Hädonisten" nannte, versuchte er eine Vorstellung auszuschmücken, die ein Teil der breiten Öffentlichkeit ohnehin schon immer unterschwellig von den Rolling Stones hatte.

Seit Beginn ihrer Karriere wurden die Rolling Stones stets als das unannehmbare Gesicht der Rock-Musik betrachtet. Heute ist möglicherweise eine Lage entstanden, wo dieselben Boulevardblätter, die einst die Stones steinigen wollten, auf der Frontseite darüber jubeln, daß es diese Gruppe immer noch gibt.

Ein wesentlicher Faktor für den Langzeiterfolg der Stones war die Tatsache, daß sie sich niemalsfertigmachen ließen. Sie waren die erste Gruppe, die nicht nur jedem derartigen Versuch standhielt, sondern sogar zurückschlug.

Damals - wie heute — galt: die Stones lassen sich nicht ins Handwerk pfuschen.

Wie den Meisten dämmerte auch mir die umwälzende Wirkung der Stones erst etwa um 10 Uhr abends am 24. Juli 1964, als ich als hoffnungsfroher R&B-Musiker durch eine günstige Fügung des Schicksals unmittelbar vor den Rolling Stones aufzutreten hatte.

Ort der Szene war der gewölbeartige Empress Ballroom, the Winter Gardens, Blackpool.

In jenen friedlichen Tagen hatte jede Gruppe nur drei Minuten Zeit zum Umbau und weitere dreißig auf der Bühne, um das Publikum zur Raserei zu treiben.

An jenem Abend dauerte das bei den Rolling Stones weniger Zeit als der Umbau!

Es war ein schottisches Ferien-Wochenende, und ohne jede Rücksicht auf Bequemlichkeit und Sicherheit füllte sich der dampfende Schlund des Empress Ballroom bis zum Bersten mit halbbesoffenen, schweißtriefenden Glasgowern: einige gehörten zu den Straßen-Gangs, von denen schon viele in einem fortgeschrittenen Zustand übelster Trunkenheit waren. Kurz, die Szene wurde von besoffenen Schotten beherrscht. Am nächsten Morgen schätzten die Zeitungen der Nation, daß ein Publikum von 7.000 Leuten mehr als eine Stunde getobt und alles kurz und klein geschlagen habe, bevor es unter Kontrolle gebracht werden konnte. Eine exaktere Zahl wird wohl näher bei 10.000 gelegen haben. Die Tatsache, daß Abteilungen handgreiflicher Sicherheitsbeamter und uniformierter Polizisten strategisch über den ganzen Ballraum verteilt worden waren, die scharf darauf waren, die neuesten Taktiken der Massenkontrolle vorzuführen, erleichterte nicht gerade eine schon ohnehin hochexplosive Situation - sondern produzierte genau die entgegen gesetzte Wirkung.

Es gab sofort Ärger, als die Rolling Stones die Bühne erklommen. Erstaunlicherweise schien die Gruppe die häufigen Ausbrüche sinnloser Gewalt kaum zu bemerken, die ihre reine Anwesenheit zu entzünden schien.

Als sie mit ihrer Eingangsnummer losdonnerten, waren Bill Wyman und Charlie Watts erwartungsgemäß teilnahmslos und pokerfaced; Keith Richard stelzte vor seinen Amplifier und schlug unbeteiligt in seine Gitarre, als hätte man ihn gerade aus dem Bett gezogen. Derweil schien ein gleichermaßen desinteressierter Mick Jagger hauptsächlich damit beschäftigt, neue Tanzschritte auszuprobieren und schüttelte heftig sein knochiges Hinterteil in Richtung Publikum wie eine aufgeputschte Ente. Von den Fünf machte nur Brian Jones den Eindruck, als nehme er überhaupt wahr, was sich da unten zusammenbraute und schaukelte die hysterischen Teile der Menge mit narzistischem Haarschütteln (sein Haar ist flachsfarben) noch weiter hoch. In einem Versuch, Jagger die Show zu stehlen, spielte er seine neu erfundene Rolle des Halbgottes in Jeans nach allen Spielregeln.

Jemand ganz vorne an der Bühne mokierte sich plötzlich über Jones läppisches Gehabe. Desgleichen seine Gefolgsleute. Als Jones nervös näher an den Bühnenrand ging, fing diese Gang halbwüchsiger Gören einen Wettkampf an, wer von ihnen den Stone anspucken könne.

Keiner verfehlte sein Ziel.

Wütend über das, was passiert war, stolzierte Keith Richard ärgerlich zu Jones hinüber und gab dem Anführer, der mit seinem Kinn und Händen auf dem fünf Fuß hohen Bühnenrand lehnte, in unzweideutiger Weise eine öffentliche Verwarnung.

Der Vorfall hätte besser hier und jetzt enden sollen.

Doch es kam anders.

Plötzlich flog eine große Ladung Rotze durch die Luft, hing für einen Augenblick im Schein des Rampenlichts und traf dann Richard. Ohne jedes Zögern rächte sich der aufgebrachte Gitarist, indem er den Halbwüchsigen mit dem runden Absatz seines Chelsea-Stiefels hart auf die Knöchel trat und dann, nach einem schnellen Schritt zurück, wütend seine Stiefelsohle in der Nase seines Gegners vergrub.

Als der Ruf "Schottland, Schottland" die Luft erzittern ließ, flüchteten die Stones durch den Hinterausgang. Sofort begann eine Attacke auf die Polizei und das Blut floß, als man die Bühne stürmte; die Instrumente wurden zu Kleinholz zertrümmert und der Empress-Ballroom regelrecht geplündert.

Obwohl bei diesem Ausbruch die meisten meiner Kleider in Fetzen ging, so bin ich doch noch heute davon beeindruckt, daß die Stones, obwohl es wirklich schlecht für sie aussah, nicht nur unbezwungen blieben, sondern sogar die Stirn hatten, sich offen ihren heftigsten Verleumdern zu stellen. Sieben Jahre später zeigt besonders eine Szene in dem Film Gimme Shelter — wo Keith Richard versucht, die Hell's Angels abzukühlen — gleichermaßen, daß er sich von der Gewalt nicht beeindrucken ließ, die die Stones in Altamont auf der Bühne umgab. Man braucht etwas mehr als blinde Ignoranz, um diese Art von Selbstsicherheit zu produzieren, und dabei nicht draufzugehen.

Der Prozeß, der schließlich zur Bildung der als "The Rolling Stones" bekannten Gruppe führen sollte, war eine so zufällige Folge von Ereignissen, daß die Schwierigkeit nicht darin besteht, herauszufinden, wie sie alle deklassierten, die mit ihnen kamen, sondern darin, wie sie überhaupt ihren Start schafften!

"Wenn Brian Jones, Bill Wyman, Charlie Watts und ich nie das Licht dieser Erde erblickt hätten", behauptet Gründungsmitglied lan Stewart, heute persönlicher Berater und gelegentlicher Pianist bei den Stones, "hätten Mick und Keith dennoch eine Gruppe aufgemacht, die genauso wie die Rolling Stones ausgesehen und geklungen hätte."

Jaggers und Richards Freundschaft reicht bis zum Kindergarten der Maypole County Primary School zurück, als sie beide etwa sechs Jahre alt waren, aber sie dauerte zunächst nur kurz. Sie kamen erst 1960 wieder zusammen. Zu diesem Zeitpunkt besuchte Jagger die London School of Economics, und Richard (nachdem man ihn wegen Schwänzen aus der Dartford Technical School herausgeworfen hatte) schlug sich seine Zeit in der Sidcup Art School tot.

Beide waren im Zug, als sie ihre Freundschaft erneuerten. Jagger trug ein Paket mit importierten R&B Chess Record Platten bei sich, und Richard seine Gitarre. Sie erzählten sich über die getrennten Jahre und fanden nicht nur heraus, daß sie beide Blues-Fanatiker waren, sondern einen gemeinsamen Freund hatten: den Gitarristen Dick Taylor (der mit Mick in der Dartford Grammar School gewesen war und jetzt mit Keith an der Sidcup Art School herumhing).

Wie durchsickerte, war Jagger über R&B mit Dick Taylor bekannt geworden - und durch zwei Freunde namens Bob Beckwith und Allen Etherington - unter dem Pseudonym "Little Boy Blue And The Blue Boys". In der Stadt hatte Richard die meister Zeit damit verbracht, seine Klassenstunden zu schwänzen, um seiner natürlichen Begabung als Chuck Berry — inspirierter Gitarrist und Vagabund nachzugehen.

Nicht lange danach trat Keith Richard in die Blue-Boys-Formation ein.

Etwa zur gleichen Zeit hatte drüben in Cheltenham Lewis Brian Hopkin-Jones bereits seine ersten Anfälle akuter Frustrationen. Völlig desillusioniert durch den Mangel an brauchbaren musikalischen Verbindungen in diesem beschaulichen Regentenbad wurde er schnell zurückgezogen, paranoid und haßerfüllt gegen jede Form von Autorität. Trotz seiner früheren Schulerfolge hatte sich Jones schon als Problemkind gezeigt, als er alle seine akademischen Studien plötzlich aufgab, um sich auf Jazzspielen zu konzentrieren, wobei er sich mit einer Reihe von aussichtslosen Eintags-Jobs über Wasser hielt. Außerdem hatte er öffentlich den Familiennamen beschmutzt, indem er schon im Alter von siebzehn zwei uneheliche Kinder gezeugt hatte. Jones sollte tatsächlich insgesamt mindestens sechs uneheliche Kinder von verschiedenen unverheirateten Müttern haben.

Seine einzige Erholung waren Auftritte mit Klarinette und Alt-Saxophon im West Country gemeinsam mit lokalen Trad(Jazz-)bands.

Es gab so wenige größere Tournee-Bands, die Cheltenham besuchten, daß, als Alexis Korner einen einmaligen Auftritt mit Chris Barber's Jazz Band gab, Jones sich schnell mit dem Pionier des British Blues in einer Weinbar gegenüber dem lokalen Jazzclub befreundete.

Solche Unterbrechungen seiner Routine waren jedoch selten, und bald hatte er wieder das Gefühl, daß die Wände auf ihn fielen. In einem Anfall von Angst flüchtete er nach Skandinavien, wo er sich so durchschlug und seine Fähigkeiten als Gitarrist verbesserte. Nach seiner Rückkehr nach Cheltenham arbeitete er kurz mit den Ramrods - eine von Duane Eddy inspirierte Rockband -, bevor er sich zusammen mit Pat Andrews, der Mutter seines zweiten Kindes, nach London aufmachte.

Über die nächsten Monate lebten sie, so gut es ging, von Gelegenheitsarbeiten, die Jones zunächst in Whiteley's Departmental Store in Queensway, und dann im Civil Service Store am Strand fand. Seine Freundin arbeitete in einer Wäscherei. Zu jeder möglichen Gelegenheit gastierte Jones bei der Alexis Korner's Blues Incorparated und bekam von Cyril Davies Tips für einen schummerigen Stil auf der Blues-Harmonika.

Indes, es war Jones großer Traum, seine eigene R&B Band zu gründen, und er setzte deshalb Anzeigen in die Jazz News . Eine der ersten Rückantworten kam vom Pianisten lan Stewart, der Jones in unbeschreiblicher Armut in der Edith Road, Hammersmith, entdeckte, wo er von kalten Spaghetti-Konserven lebte. Er nahm Stewart zu einer Probe mit dem Sänger namens Andy Wren und einem hervorragenden Blues-Gitarristen, Geoff Bradford, mit.

Um die Wende der sechziger Jahre erfreute sich R&B noch geringerer Beliebtheit. Platten mußten aus Amerika eingeführt werden, und der einzige Ort, wo man etwas entfernt daran Erinnerndes live hören konnte, war an einem Samstagabend im Ealing Blues Club - wo Alexis Korner's Blues Incorporated residierte.

Es war während einer solchen Session, daß Jagger, Richard, Dick Taylor und der Rest der Blue Boys Brian Jones trafen, der unter dem Namen Elmo Lewis mit dem Sänger PP Pond (dem späteren Paul Jones, dem Lead Singer von Manfred Mann) Sachen von den Muddy Waters und Elmore James spielte.

Ein paar Wochen später hatten Jagger und Richard genügend Mut gesammelt, um auf die baufällige Bühne des Ealing Blues Club zu klettern und mit Korners Rückendeckung (Cyril Davies auf der Harmonika und ein Schlagzeuger, der sich als Charlie Watts vorstellte) spulten die vier Chuck Berry's 'Around and Around' herunter. Es gab höflichen Applaus.

Am nächsten Tag schickte Jagger Alexis Korner ein Tonband der Blue Boys, das primitive Hausaufnahmen von 'La Bamba', mit 'Around And Around', 'Reelin' And Rocking' und 'Bright Lights Big City'.

Die erste Verbindung stand: Mick Jagger begann bald, mit Brian Jones, Geoff Bradford und Tan Stewart zu proben. Kurz darauf nahm Jagger Keith Richard und Dick Taylor ins Schlepptau.

Obwohl vollendeter Gitarrist, war Geoff Bradford ein Purist und wollte deshalb von nichts etwas wissen, das auch nur im entferntesten mit Rock 'n' Roll in Verbindung gebracht werden konnte. Er spielte gerne Sachen von Muddy Waters, aber zog eine klare Linie gegenüber Chuck Berry and Bo Diddley, die er beide als kommerzielle Schreihälse ansah. So kam es zwischen Bradford und Richard von Anfang an zu Dissonanzen.

Während dieser Verbindung im Anfangsstadium stand Jagger unter solchem Einfluß des Chikago-orientierten Bluesspielers Jimmy Reed, daß er auf jede Frage mit einem direkten Zitat aus einem Reed-Song antwortete.

Neben Bradfords Meinung war Jimmy Reed lahm . . . fertig. Eine Zeitlang umfaßte die buntscheckige Sammlung von Musikern, die sich versammelten, um eine für alle Betroffenen akzeptable Sorte von Blues zu spielen, Brian Jones, Geoff Bradford, Mick Jagger, lan Stewart, Keith Richard, Dick Taylor und jeden Schlagzeuger, den Stewart durch seine Jazzverbindungen bekommen konnte. Jedoch brach bald zwischen Jones und Bradford ein persönlicher Affront aus, der unvermeidlich mit dem Austritt des letzteren endete.

Es war Frühling 1962, und Jagger trat nunmehr ständig mit der Blues Incorporated auf, wo er ein Programm hatte, das 'Bad Boys', 'Ride 'Em On Down' und 'Don't Stay Out All Night' umfaßte.

Die Sache kam ins Rollen. Blues Incorporated spielte jetzt jeden Donnerstag im Marquee Club (damals in der Oxford Street) und gab ebenfalls regelmäßige Konzerte in den Vorstädten und auf einer Reihe von Festveranstaltungen.

Dennoch waren die Montage und Mittwoche noch frei, und so probte der Musikerhaufen, aus dem eines Tages die Rolling Stones werden sollten, in den Bricklayer's Arms in Broadwick Street, Soho, später in den Wetherby Arms in der Kings Road, während Jones, Jagger und Richard in ein ärmliches Zimmer mit nackter Birnenbeleuchtung in den Edith Grove nahe Fulham Road zogen.

Obwohl die genauen Daten und Orte mit den Jahren verschwommen wurden, so schleppte die Gruppe doch eines Tages ihre kümmerliche Ausrüstung in Curly Claytons kleines Aufnahmestudio nahe dem Arsenal-Fußballstadion, wo sie drei Songs aufnahmen, darunter Bo Diddleys 'You Can't Judge A Book (By Looking At The Co-ver)'.

Obwohl nach lan Stewarts Worten die Gruppe wirklich gut zusammenpaßte, war die Aufnahme technisch unsagbar mies. Jedoch wurde trotz der geringen Qualität das Band Neville Skrimshire von EMI Records abgeliefert. Ohne jeden Erfolg.

Es grenzt an ein Wunder, daß eine Band ohne Beschäftigung und augenscheinlich ohne Zukunft nicht auseinanderfiel. Moral und Geld waren nicht existent, und deshalb unterstützte Stewart (der bei ICI angestellt war) ihre Kartoffelbrei-Diät (plus einem gelegentlichen Ei für Farbe und Kalorien) mit Essenmarken, die er von diätbewußten Sekretärinnen für je einen Schilling kaufte. Mrs. Richard rettete sie ebenfalls mit regelmäßigen Freßpaketen vor dem Hungertod.

Dennoch machten sie mit den Proben weiter, und wenn sie neues Material brauchten, "liehen" sie entweder Platten aus der Wohnung von Produzent Guy Stevens in Camden Town, oder erschienen auf Parties in The Cellar in Kingston-upon-Themes, wo ein Typ mit Namen Carrot (der den Chuck Berry Fan Club leitete) R&B-Platten bis zum Morgen abspielte.

Irgendwie gelang es ihnen, den Schlagzeuger Tony Chapman einzuspannen. Sie spielten erstmals unter dem Namen 'The Rolling Stones' — dem Titel eines Muddy Waters Song.

Da niemand eine Band ohne Stammbaum anheuern wollte, begannen sie, selbst ihre Konzerte zu arrangieren - darunter damals der Red Lion in Sutton. Doch nach einem mißglückten Versuch, den Blues nach Watford zu bringen, steckte Bassist Dick Taylor es auf und bewarb sich beim Royal Colle of Art (er tauchte später bei den Pretty Things wieder auf).

Im Juli 1962 nahmen die Dinge eine unvorhergesehene Wendung zum Besseren. Blues Incorporated wurde für einen Auftritt bei Radio BBCs 'Jazz Club' engagiert, aber weil der offizielle Fond ein Budget für nur sechs Musiker bereitstellte, hieß dies, daß sie sich den Luxus eines Extra-Sängers nicht leisten konnten.

Jagger schien unbeeindruckt von diesem Ausschluß aus der Truppe. So weit es ihn betraf, war dies die beste Gelegenheit für die Gruppe, um in London zu debütieren. Weil der 'Jazz Club' live an einem Donnerstag ausgestrahlt wurde, mußte jemand für die Blues Incorporated bei der regelmäßigen wöchentlichen R&B-Session im Marquee einspringen. Am 12. Juli 1962 entstanden die Rolling Stones.

Schon damals wollte sich Jagger mit den Stones vom breiten Hauptstrom des R&B absetzen. Er hatte schon ein paar Zusammenstöße mit Cyril Davies über die Frage hinter sich, wie der Blues zu interpretieren sei - während er sich gleichzeitig darüber klar wurde, daß die inzestuöse Londoner R&B-Szene voll in Intrigen und Mauscheleien steckte. Wie es aussah, war die gesamte Szene in Gefahr, von innen heraus zusammenzubrechen.

Unter jenen Jazz-Zynikern, die, um zu überleben, sich dem R&B zugewandt hatten (als Alternative zu Hochzeitsparties und Barmusik), schien sich Haß gegen solche Leute wie Jagger, Richard und Jones aufzubauen. Insgeheim glaubten viele von ihnen, daß ebenso wie der Skiffle, R&B eine vorübergehende Modeerscheinung sei, und daß binnen kurzem Clubs wie der Marquee, der Flamingo und Studio 51 zu ihrer All-Jazz-Politik zurückkehren würden. So weit es sie betraf, war alles Rock 'n' Roll, wo es drei elektrische Gitarren und einen Extra-Sänger gab.

Diese Feindseligkeit von innerhalb des Business sollte sich noch verschärfen, als die Rolling Stones damit begannen, ihre eigene Gefolgschaft aufzubauen und für solche Bands zur Drohung wurden, die nur widerwillig R&B spielten. Währenddem gab es auch interne Probleme.

Tony Chapman konnte seinen Platz als Schlagzeuger der Stones nur behaupten, weil er zu dieser Zeit der beste war, den sie bekommen konnten. Als reisender Vertreter versäumte Chapman mehr Proben, als er ihnen beiwohnte. Leider paßten seine regelmäßigen Vertreter Mick Avory (jetzt bei den Kinks) und Steve Harris nicht in die Gruppe.

Monatelang hatten die Stones schon versucht, Charlie Watts zum Beitritt zu überreden. Watts war äußerst vorsichtig. Er wollte für eine Verpflichtung zumindest etwas finanzielle Sicherheit. Als Designer für eine Reklamefirma auf der Regent Street verdiente er £ 14 pro Woche plus seinen Konzerttantiemen. Hatte er nicht schon die Blues Incorporated verlassen, weil der Job zu regelmäßig wurde und man ihn vielleicht zum Profi machen wollte? Andererseits wurde er zunehmend unzufrieden mit seiner eigenen Gruppe Blues By Five (später By Six), die kaum Fortschritte machte. Schließlich brauchte er Bedenkzeit wegen der etwas ungesunden Reputation, die sich dieser gottverlassene Haufe namens "The Rolling Stones" zu erwerben begann.

Unterdessen stellte sich Ex-RAF-Bediensteter Bill Perks (geb. Wyman), der neben Chapman in einer Südlondoner Rockband namens "The Cliftons" gespielt hatte, kurz vor Weihnachten in der Wetherby Arms für die Position des Bassisten vor. Wyman wurde nicht nur wegen seines Könnens herzlich aufgenommen, sondern weil er mehr Verstärkergeräte zu besitzen schien, als der ganze Rest der Gruppe.

Vor Ende Januar 1963 willigte Charlie Watts in die Dauereinladung ein, Tony Chapman bei den Rolling Stones zu ersetzen.

Die Würfel waren gefallen.



Die Rolling Stones 1963 noch mit Ian Stewart (rechts oben mit Bongos)

Mit Mick Jagger (vocals), Keith Richard und Brian Jones (Gitarre), lan Stewart (Piano), Bill Wyman (Baß) und Charlie Watts (Schlagzeug), tauchten die Rolling Stones in IBCs Aufnahmestudios am Portland Place unter der Regie ihres engen Freundes Glyn Johns auf. In nur drei Stunden schnitten und mischten sie vier R&B Standards: 'I Wont To Be Love', 'Roadrunner', 'Diddley Diddley Daddy' und 'Honey, What's Wrong'. Dann - es blieben ihnen nur noch fünf Minuten auf der Studio-Uhr -rissen sie einen ungeschnittenen take von Jimmy Reeds 'Bright Lights, Big City' herunter. Ein paar Tage später kamen sie für eine sechste Aufnahme zurück, deren Titel später in Vergessenheit geriet. Zu ihrem Ärger fanden sie nirgendwo einen Produzenten, der diese Bänder herausgeben wollte.

Trotz ständiger Opposition aus der R&B-Gemeinde bekamen die Rolling Stones allmählich regelmäßige Arbeit im schnell expandierenden R&B-Umkreis. Jedoch waren sie auf der Suche nach einem festen Standort und planten ihr Erscheinen auf dem renommierten Sonntag-Nachmittag-Konzert in Giorgio Gomelskys Crawdaddy Club im Station Hotel, draußen in Richmond.

Die Dave Wood R&B Band kontrollierte den begehrten Standort, aber als es aussah, als ob der Job frei würde, bedurfte es bei Gomelsky wenig Überredungskunst, um die Rolling Stones zu engagieren.

Obwohl Charlie Watts die ersten beiden Konzerte im Crawdaddy spielte, traten zwei von Cyril Davies Leuten, Carlo Little (Schlagzeug) und Ricky Fenson (Baß) bei dem dritten Konzert der Stones mit auf. Die Zusammenarbeit war schrecklich; obwohl beim Publikum Littles hartes Rock-Trommeln zu zünden schien und Jones — wie immer von der Massenreaktion beeinflußbar — Carlo Little für die Stones zu verpflichten suchte, wurde er überstimmt.

Obwohl niemals etwas unterzeichnet oder formal vereinbart worden war, wurde der weißrussische Experimentierfilmer Giorgio Gomelsky zu einer Figur, die für die bisherigen Erfahrungen der Stones einem Manager am nächsten kam, und bald wurde der Crawdaddy zu einer sonntäglichen Touristenattraktion für R&B-Fans ebenso wie für die Leute aus den Slums von Chelsea.

George Harrison war eine der ersten von vielen Größen, die die Rolling Stones testeten, was die Richmond and Twickenham Times dazu motivierte, über dieses Lokalphänomen zu berichten (s. S. 10).

Der freie Musikreporter Peter Jones war einer der ersten Showbusiness-Schreiber, der zu ihnen pilgerte. Er kam herein, als Gomelsky gerade filmte, wie die Stones Bo Diddleys 'Pretty Thing' spielten, und stach Record Mirrors R&B-Experte Norman Jopling damit aus. Es war auch Jones, welcher später das Allroundgenie Andrew Loog Oldham informierte, daß Jopling plane, einen ekstatischen Bericht für Record Mirror zu verfassen.

Am Sonntag, dem 28. April 1963, fuhr Oldham in Begleitung seines Chefs Eric Easton nach Richmond hinunter. Easton zeigte sich beeindruckt, aber reserviert. Oldham war sprachlos. Um George Melly zu zitieren: "Er starrte Jagger an wie Silvester den Neujahrskuchen."

Am nächsten Tag unterschrieben Easton und Oldham mit den Rolling Stones einen Exklusivvertrag, später behaupteten sie, sie hätten den anderen Managern das Geschäft um 24 Stunden vor der Nase weggeschnappt.

Nun ist Rock 'n' Roll von seiner Natur her ein amoralisches Geschäft: wahrscheinlich die gefräßigste Branche in der Konsumindustrie mit Sofortumsatz. Das Produkt ist nicht für den Langzeitgebrauch bestimmt - es ist in erster Linie hochgejubelt, aufregend, raffiniert und sorgfältig verpackt, um das Sinnliche anzusprechen und eine zeitweilige Flucht aus dem Alltag zu ermöglichen. Wenn ein Stil sein geschäftliches Potential zu verlieren beginnt, wird er sofort abgesetzt und erscheint später, viel später, nochmals in irgendeiner Nostalgiewelle. In einer solchen Atmosphäre des Wettbewerbs behalten Künstler sowohl Popularität wie Glaubwürdigkeit selten länger als fünf Jahre.

Loog Oldham — ein neunzehnjähriger gescheiteter, zum Hustler umgestülpter Popsänger mit Managerambitionen im Mai 1963 erklärte: "Die Rolling Stones sind nicht irgendeine Gruppe - sie sind ein Way of Life" - ein hübscher Reklame-Gag, von dem Oldham wahrscheinlich annahm, daß er eine saure Reaktion bei denen hervorrufen würde, die die schiere Existenz der Stones in Abrede zu stellen suchten. Jedoch konnte damals Oldham kaum wissen, daß mehr als ein Körnchen Wahrheit in diesem smarten Spruch lag.

Aufgemöbelt durch seine PR-Aktivitäten für die Beatles betrachtete Oldham möglicherweise die Rolling Stones ursprünglich nur als eine angenehme Zwischenmahlzeit bis zu dem Zeitpunkt, wo er seine eigene neue Show aufbauen könnte. Solche Gedanken mußten sich aber verflüchtigen, als er erkannte, was für ein Rohmaterial die Rolling Stones mitbrachten.

Plötzlich bot sich hier eine unwiederbringliche Gelegenheit. Genau wie Brian Epstein sowohl Persönlichkeit und Ausdrucksmöglichkeiten durch die Beatles gefunden hatte, so entschloß sich Oldham, um künstlerische Genugtuung zu finden, die Rolling Stones als eine Projektion seines eigenen Ego zu nutzen.

Mit dieser Absicht setzte sich Oldham sofort daran, eine Nachfrage nach den Rolling Stones zu erzeugen, indem er eiskalt einen Künstler gegen den anderen ausspielte -aber dabei Dick Rowe von Decca nicht aus den Augen ließ (derselbe, der zu seiner ewigen Schande die Beatles hatte abfahren lassen).

Rowe unterzeichnete schließlich mit den Rolling Stones einen Plattenvertrag, der ihm die Rechte für eine Summe überließ, die sich nur mit der der internationalen Plattengrößen vergleichen ließ.

Obwohl lan Stewart niemals offiziell die Rolling Stones verließ, gab ihm Oldham zu verstehen, daß sein eher straightes Image nicht zu dem passe, was Oldham sich für seine Schützlinge ausgedacht hatte.

Eine Woche später kamen die Stones für Probeaufnahmen in die Olympic Sound Studios, als Oldham in den Kontrollraum stapfte und dem Toningenieur Roger Savage verkündete: "Schau mal, ich bin der Produzent und das ist die erste Aufnahme-Session, die ich je gemacht habe. Ich habe keine blasse Ahnung von Aufnahmen oder Musik."

Nicht nur kam die allererste Single der Rolling Stones: 'Come On' am 7. Juni 1963 heraus, sondern es gelang der Gruppe auch nach langem Hin und Her, ihr TV-Debüt in der Nr. l show Thank Your Lucky Stars'.

Während der Übertragung zog sich ein TV-Produzent Oldham auf die Seite und vertraute ihm an, daß, falls Oldham irgendwelche Ambitionen hätte, die Rolling Stones irgendwohin zu bringen, dann sollten sie besser ihren mies aussehenden Sänger mit seinem Froschmaul loswerden ...

 

Quelle:  Der Text wurde entnommen aus "Die Rolling Stone - eine illustrierte Dokumentation" von Roy Carr, Great Britain 1976. Es handelt sich um die Einleitung. S.4 bis 7, Fotos ebenda

OCR-Scan: red trend

 

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