Als Guy
Peellaert in seinem Bildband Rock Dreams die Rolling Stones
"ledergekleidete Transvestiten, faschistische Kinderschrecks und
ausschweifende Hädonisten" nannte, versuchte er eine Vorstellung
auszuschmücken, die ein Teil der breiten Öffentlichkeit ohnehin schon immer
unterschwellig von den Rolling Stones hatte. Seit Beginn ihrer Karriere
wurden die Rolling Stones stets als das unannehmbare Gesicht der Rock-Musik
betrachtet. Heute ist möglicherweise eine Lage entstanden, wo dieselben
Boulevardblätter, die einst die Stones steinigen wollten, auf der Frontseite
darüber jubeln, daß es diese Gruppe immer noch gibt.
Ein wesentlicher Faktor für den Langzeiterfolg der Stones war die
Tatsache, daß sie sich niemalsfertigmachen ließen. Sie waren die erste
Gruppe, die nicht nur jedem derartigen Versuch standhielt, sondern sogar
zurückschlug.
Damals - wie heute — galt: die Stones lassen sich nicht ins Handwerk
pfuschen.
Wie den Meisten dämmerte auch mir die umwälzende Wirkung der Stones erst
etwa um 10 Uhr abends am 24. Juli 1964, als ich als hoffnungsfroher
R&B-Musiker durch eine günstige Fügung des Schicksals unmittelbar vor den
Rolling Stones aufzutreten hatte.
Ort der Szene war der gewölbeartige Empress Ballroom, the Winter Gardens,
Blackpool.
In jenen friedlichen Tagen hatte jede Gruppe nur drei Minuten Zeit zum
Umbau und weitere dreißig auf der Bühne, um das Publikum zur Raserei zu
treiben.
An jenem Abend dauerte das bei den Rolling Stones weniger Zeit als der
Umbau!
Es war ein schottisches Ferien-Wochenende, und ohne jede Rücksicht auf
Bequemlichkeit und Sicherheit füllte sich der dampfende Schlund des Empress
Ballroom bis zum Bersten mit halbbesoffenen, schweißtriefenden Glasgowern:
einige gehörten zu den Straßen-Gangs, von denen schon viele in einem
fortgeschrittenen Zustand übelster Trunkenheit waren. Kurz, die Szene wurde
von besoffenen Schotten beherrscht. Am nächsten Morgen schätzten die
Zeitungen der Nation, daß ein Publikum von 7.000 Leuten mehr als eine Stunde
getobt und alles kurz und klein geschlagen habe, bevor es unter Kontrolle
gebracht werden konnte. Eine exaktere Zahl wird wohl näher bei 10.000
gelegen haben. Die Tatsache, daß Abteilungen handgreiflicher
Sicherheitsbeamter und uniformierter Polizisten strategisch über den ganzen
Ballraum verteilt worden waren, die scharf darauf waren, die neuesten
Taktiken der Massenkontrolle vorzuführen, erleichterte nicht gerade eine
schon ohnehin hochexplosive Situation - sondern produzierte genau die
entgegen gesetzte Wirkung.
Es gab sofort Ärger, als die Rolling Stones die Bühne erklommen.
Erstaunlicherweise schien die Gruppe die häufigen Ausbrüche sinnloser Gewalt
kaum zu bemerken, die ihre reine Anwesenheit zu entzünden schien.
Als sie mit ihrer Eingangsnummer losdonnerten, waren Bill Wyman und
Charlie Watts erwartungsgemäß teilnahmslos und pokerfaced; Keith Richard
stelzte vor seinen Amplifier und schlug unbeteiligt in seine Gitarre, als
hätte man ihn gerade aus dem Bett gezogen. Derweil schien ein gleichermaßen
desinteressierter Mick Jagger hauptsächlich damit beschäftigt, neue
Tanzschritte auszuprobieren und schüttelte heftig sein knochiges Hinterteil
in Richtung Publikum wie eine aufgeputschte Ente. Von den Fünf machte nur
Brian Jones den Eindruck, als nehme er überhaupt wahr, was sich da unten
zusammenbraute und schaukelte die hysterischen Teile der Menge mit
narzistischem Haarschütteln (sein Haar ist flachsfarben) noch weiter hoch.
In einem Versuch, Jagger die Show zu stehlen, spielte er seine neu
erfundene Rolle des Halbgottes in Jeans nach allen Spielregeln.
Jemand ganz vorne an der Bühne mokierte sich plötzlich über Jones
läppisches Gehabe. Desgleichen seine Gefolgsleute. Als Jones nervös näher an
den Bühnenrand ging, fing diese Gang halbwüchsiger Gören einen Wettkampf an,
wer von ihnen den Stone anspucken könne.
Keiner verfehlte sein Ziel.
Wütend über das, was passiert war, stolzierte Keith Richard ärgerlich zu
Jones hinüber und gab dem Anführer, der mit seinem Kinn und Händen auf dem
fünf Fuß hohen Bühnenrand lehnte, in unzweideutiger Weise eine öffentliche
Verwarnung.
Der Vorfall hätte besser hier und jetzt enden sollen.
Doch es kam anders.
Plötzlich flog eine große Ladung Rotze durch die
Luft, hing für einen Augenblick im Schein des Rampenlichts und traf dann
Richard. Ohne jedes Zögern rächte sich der
aufgebrachte Gitarist, indem er den Halbwüchsigen mit dem runden Absatz
seines Chelsea-Stiefels hart auf die Knöchel trat und dann, nach einem
schnellen Schritt zurück, wütend seine Stiefelsohle in der Nase seines
Gegners vergrub.
Als der Ruf "Schottland, Schottland" die Luft erzittern ließ, flüchteten
die Stones durch den Hinterausgang. Sofort begann eine Attacke auf die
Polizei und das Blut floß, als man die Bühne stürmte; die Instrumente wurden
zu Kleinholz zertrümmert und der Empress-Ballroom
regelrecht geplündert.
Obwohl bei diesem Ausbruch die meisten meiner Kleider in Fetzen ging, so
bin ich doch noch heute davon beeindruckt, daß die Stones, obwohl es
wirklich schlecht für sie aussah, nicht nur unbezwungen blieben, sondern
sogar die Stirn hatten, sich offen ihren heftigsten Verleumdern zu stellen.
Sieben Jahre später zeigt besonders eine Szene in dem Film Gimme Shelter
— wo Keith Richard versucht, die Hell's Angels abzukühlen —
gleichermaßen, daß er sich von der Gewalt nicht beeindrucken ließ, die die
Stones in Altamont auf der Bühne umgab. Man braucht etwas mehr als blinde
Ignoranz, um diese Art von Selbstsicherheit zu produzieren, und dabei nicht
draufzugehen.
Der Prozeß, der schließlich zur Bildung der als "The Rolling Stones"
bekannten Gruppe führen sollte, war eine so zufällige Folge von Ereignissen,
daß die Schwierigkeit nicht darin besteht, herauszufinden, wie sie alle
deklassierten, die mit ihnen kamen, sondern darin, wie sie überhaupt ihren
Start schafften!
"Wenn Brian Jones, Bill Wyman, Charlie Watts und ich nie das Licht dieser
Erde erblickt hätten", behauptet Gründungsmitglied lan Stewart, heute
persönlicher Berater und gelegentlicher Pianist bei den Stones, "hätten Mick
und Keith dennoch eine Gruppe aufgemacht, die genauso wie die Rolling Stones
ausgesehen und geklungen hätte."
Jaggers und Richards Freundschaft reicht bis zum Kindergarten der Maypole
County Primary School zurück, als sie beide etwa sechs Jahre alt waren, aber
sie dauerte zunächst nur kurz. Sie kamen erst 1960 wieder zusammen. Zu
diesem Zeitpunkt besuchte Jagger die London School of Economics, und Richard
(nachdem man ihn wegen Schwänzen aus der Dartford Technical School
herausgeworfen hatte) schlug sich seine Zeit in der Sidcup Art School tot.
Beide waren im Zug, als sie ihre Freundschaft erneuerten. Jagger trug ein
Paket mit importierten R&B Chess Record Platten bei sich, und Richard seine
Gitarre. Sie erzählten sich über die getrennten Jahre und fanden nicht nur
heraus, daß sie beide Blues-Fanatiker waren, sondern einen gemeinsamen
Freund hatten: den Gitarristen Dick Taylor (der mit Mick in der Dartford
Grammar School gewesen war und jetzt mit Keith an der Sidcup Art School
herumhing).
Wie durchsickerte, war Jagger über R&B mit Dick Taylor bekannt geworden -
und durch zwei Freunde namens Bob Beckwith und Allen Etherington - unter dem
Pseudonym "Little Boy Blue And The Blue Boys". In der Stadt hatte Richard
die meister Zeit damit verbracht, seine Klassenstunden zu schwänzen, um
seiner natürlichen Begabung als Chuck Berry — inspirierter Gitarrist und
Vagabund nachzugehen.
Nicht lange danach trat Keith Richard in die Blue-Boys-Formation ein.
Etwa zur gleichen Zeit hatte drüben in Cheltenham Lewis Brian
Hopkin-Jones bereits seine ersten Anfälle akuter Frustrationen. Völlig
desillusioniert durch den Mangel an brauchbaren musikalischen Verbindungen
in diesem beschaulichen Regentenbad wurde er schnell zurückgezogen, paranoid
und haßerfüllt gegen jede Form von Autorität. Trotz seiner früheren
Schulerfolge hatte sich Jones schon als Problemkind gezeigt, als er alle
seine akademischen Studien plötzlich aufgab, um sich auf Jazzspielen zu
konzentrieren, wobei er sich mit einer Reihe von aussichtslosen Eintags-Jobs
über Wasser hielt. Außerdem hatte er öffentlich den Familiennamen
beschmutzt, indem er schon im Alter von siebzehn zwei uneheliche Kinder
gezeugt hatte. Jones sollte tatsächlich insgesamt mindestens
sechs uneheliche Kinder von verschiedenen unverheirateten Müttern haben.
Seine einzige Erholung waren Auftritte mit Klarinette und Alt-Saxophon im
West Country gemeinsam mit lokalen Trad(Jazz-)bands.
Es gab so wenige größere Tournee-Bands, die Cheltenham besuchten, daß,
als Alexis Korner einen einmaligen Auftritt mit Chris Barber's Jazz Band
gab, Jones sich schnell mit dem Pionier des British Blues in einer Weinbar
gegenüber dem lokalen Jazzclub befreundete.
Solche Unterbrechungen seiner Routine waren jedoch selten, und bald hatte
er wieder das Gefühl, daß die Wände auf ihn fielen. In einem Anfall von
Angst flüchtete er nach Skandinavien, wo er sich so durchschlug und seine
Fähigkeiten als Gitarrist verbesserte. Nach seiner Rückkehr nach Cheltenham
arbeitete er kurz mit den Ramrods - eine von Duane Eddy inspirierte Rockband
-, bevor er sich zusammen mit Pat Andrews, der Mutter seines zweiten Kindes,
nach London aufmachte.
Über die nächsten Monate lebten sie, so gut es ging, von
Gelegenheitsarbeiten, die Jones zunächst in Whiteley's Departmental Store in
Queensway, und dann im Civil Service Store am Strand fand. Seine Freundin
arbeitete in einer Wäscherei. Zu jeder möglichen Gelegenheit gastierte Jones
bei der Alexis Korner's Blues Incorparated und bekam von Cyril Davies Tips
für einen schummerigen Stil auf der Blues-Harmonika.
Indes, es war Jones großer Traum, seine eigene R&B Band zu gründen, und
er setzte deshalb Anzeigen in die Jazz News . Eine der ersten
Rückantworten kam vom Pianisten lan Stewart, der Jones in unbeschreiblicher
Armut in der Edith Road, Hammersmith,
entdeckte, wo er von kalten Spaghetti-Konserven lebte. Er nahm Stewart zu
einer Probe mit dem Sänger namens Andy Wren und einem hervorragenden
Blues-Gitarristen, Geoff Bradford, mit.
Um die Wende der sechziger Jahre erfreute sich R&B noch geringerer
Beliebtheit. Platten mußten aus Amerika eingeführt werden, und der einzige
Ort, wo man etwas entfernt daran Erinnerndes live hören konnte, war an einem
Samstagabend im Ealing Blues Club - wo Alexis Korner's Blues Incorporated
residierte.
Es war während einer solchen Session, daß Jagger, Richard, Dick Taylor
und der Rest der Blue Boys Brian Jones trafen, der unter dem Namen Elmo
Lewis mit dem Sänger PP Pond (dem späteren Paul Jones, dem Lead Singer von
Manfred Mann) Sachen von den Muddy Waters und Elmore James spielte.
Ein paar Wochen später hatten Jagger und Richard genügend Mut gesammelt,
um auf die baufällige Bühne des Ealing Blues Club zu klettern und mit
Korners Rückendeckung (Cyril Davies auf der Harmonika und ein Schlagzeuger,
der sich als Charlie Watts vorstellte) spulten die vier Chuck Berry's 'Around
and Around' herunter. Es gab höflichen Applaus.
Am nächsten Tag schickte Jagger Alexis Korner ein Tonband der Blue Boys,
das primitive Hausaufnahmen von 'La Bamba', mit 'Around And Around', 'Reelin'
And Rocking' und 'Bright Lights Big City'.
Die erste Verbindung stand: Mick Jagger begann bald, mit Brian Jones,
Geoff Bradford und Tan Stewart zu proben. Kurz darauf nahm Jagger Keith
Richard und Dick Taylor ins Schlepptau.
Obwohl vollendeter Gitarrist, war Geoff Bradford ein Purist und wollte
deshalb von nichts etwas wissen, das auch nur im entferntesten mit Rock 'n'
Roll in Verbindung gebracht werden konnte. Er spielte
gerne Sachen von Muddy Waters, aber zog eine klare Linie gegenüber Chuck
Berry and Bo Diddley, die er beide als kommerzielle
Schreihälse ansah. So kam es zwischen Bradford und Richard von Anfang an zu
Dissonanzen.
Während dieser Verbindung im Anfangsstadium stand Jagger unter solchem
Einfluß des Chikago-orientierten Bluesspielers Jimmy Reed, daß er auf jede
Frage mit einem direkten Zitat aus einem Reed-Song antwortete.
Neben Bradfords Meinung war Jimmy Reed lahm . . . fertig. Eine Zeitlang
umfaßte die buntscheckige Sammlung von Musikern, die sich versammelten, um
eine für alle Betroffenen akzeptable Sorte von Blues zu spielen, Brian
Jones, Geoff Bradford, Mick Jagger, lan Stewart, Keith Richard, Dick Taylor
und jeden Schlagzeuger, den Stewart durch seine Jazzverbindungen bekommen
konnte. Jedoch brach bald zwischen Jones und Bradford ein persönlicher
Affront aus, der unvermeidlich mit dem Austritt des letzteren endete.
Es war Frühling 1962, und Jagger trat nunmehr ständig mit der Blues
Incorporated auf, wo er ein Programm hatte, das 'Bad Boys', 'Ride 'Em On
Down' und 'Don't Stay Out All Night' umfaßte.
Die Sache kam ins Rollen. Blues Incorporated spielte jetzt jeden
Donnerstag im Marquee Club (damals in der Oxford Street) und gab ebenfalls
regelmäßige Konzerte in den Vorstädten und auf einer Reihe von
Festveranstaltungen.
Dennoch waren die Montage und Mittwoche noch frei, und so probte der
Musikerhaufen, aus dem eines Tages die Rolling Stones
werden sollten, in den Bricklayer's Arms in Broadwick Street, Soho, später
in den Wetherby Arms in der Kings Road, während Jones, Jagger und Richard in
ein ärmliches Zimmer mit nackter Birnenbeleuchtung in den Edith Grove nahe
Fulham Road zogen.
Obwohl die genauen Daten und Orte mit den Jahren verschwommen wurden, so
schleppte die Gruppe doch eines Tages ihre kümmerliche Ausrüstung in Curly
Claytons kleines Aufnahmestudio nahe dem Arsenal-Fußballstadion, wo sie drei
Songs aufnahmen, darunter Bo Diddleys 'You Can't
Judge A Book (By Looking At The Co-ver)'.
Obwohl nach lan Stewarts Worten die Gruppe wirklich gut zusammenpaßte,
war die Aufnahme technisch unsagbar mies. Jedoch wurde trotz der geringen
Qualität das Band Neville Skrimshire von EMI Records abgeliefert. Ohne jeden
Erfolg.
Es grenzt an ein Wunder, daß eine Band ohne Beschäftigung und
augenscheinlich ohne Zukunft nicht auseinanderfiel. Moral und Geld waren
nicht existent, und deshalb unterstützte Stewart (der bei ICI angestellt
war) ihre Kartoffelbrei-Diät (plus einem gelegentlichen Ei für Farbe und
Kalorien) mit Essenmarken, die er von diätbewußten Sekretärinnen für je
einen Schilling kaufte. Mrs. Richard rettete sie ebenfalls mit regelmäßigen
Freßpaketen vor dem Hungertod.
Dennoch machten sie mit den Proben weiter, und wenn sie neues Material
brauchten, "liehen" sie entweder Platten aus der Wohnung von Produzent Guy
Stevens in Camden Town, oder erschienen auf Parties in The Cellar in
Kingston-upon-Themes, wo ein Typ mit Namen Carrot (der den Chuck Berry Fan
Club leitete) R&B-Platten bis zum Morgen abspielte.
Irgendwie gelang es ihnen, den Schlagzeuger Tony
Chapman einzuspannen. Sie spielten erstmals unter dem Namen 'The Rolling
Stones' — dem Titel eines Muddy Waters Song.
Da niemand eine Band ohne Stammbaum anheuern wollte, begannen sie, selbst
ihre Konzerte zu arrangieren -
darunter damals der Red Lion in Sutton. Doch nach einem mißglückten Versuch,
den Blues nach Watford zu bringen, steckte Bassist Dick Taylor es auf und
bewarb sich beim Royal Colle of Art (er tauchte später bei den Pretty Things
wieder auf).
Im Juli 1962 nahmen die Dinge eine unvorhergesehene Wendung zum Besseren.
Blues Incorporated wurde für einen Auftritt bei Radio BBCs 'Jazz Club'
engagiert, aber weil der offizielle Fond ein Budget für nur sechs Musiker
bereitstellte, hieß dies, daß sie sich den Luxus eines Extra-Sängers nicht
leisten konnten.
Jagger schien unbeeindruckt von diesem Ausschluß aus der Truppe. So weit
es ihn betraf, war dies die beste Gelegenheit für die Gruppe, um in London
zu debütieren. Weil der 'Jazz Club' live an einem Donnerstag ausgestrahlt
wurde, mußte jemand für die Blues Incorporated bei der regelmäßigen
wöchentlichen R&B-Session im Marquee einspringen. Am 12. Juli 1962
entstanden die Rolling Stones.
Schon damals wollte sich Jagger mit den Stones vom breiten Hauptstrom des
R&B absetzen. Er hatte schon ein paar Zusammenstöße mit Cyril Davies über
die Frage hinter sich, wie der Blues zu interpretieren sei - während er sich
gleichzeitig darüber klar wurde, daß die inzestuöse Londoner R&B-Szene voll
in Intrigen und Mauscheleien steckte. Wie es aussah, war die gesamte Szene
in Gefahr, von innen heraus zusammenzubrechen.
Unter jenen Jazz-Zynikern, die, um zu überleben, sich dem R&B zugewandt
hatten (als Alternative zu Hochzeitsparties und Barmusik), schien sich Haß
gegen solche Leute wie Jagger, Richard und Jones aufzubauen. Insgeheim
glaubten viele von ihnen, daß ebenso wie der Skiffle,
R&B eine vorübergehende Modeerscheinung sei, und daß binnen kurzem Clubs wie
der Marquee, der Flamingo und Studio 51 zu ihrer All-Jazz-Politik
zurückkehren würden. So weit es sie betraf, war alles Rock 'n' Roll, wo es
drei elektrische Gitarren und einen Extra-Sänger gab.
Diese Feindseligkeit von innerhalb des Business sollte sich noch
verschärfen, als die Rolling Stones damit begannen, ihre eigene Gefolgschaft
aufzubauen und für solche Bands zur Drohung wurden, die nur widerwillig R&B
spielten. Währenddem gab es auch interne Probleme.
Tony Chapman konnte seinen Platz als Schlagzeuger der Stones nur
behaupten, weil er zu dieser Zeit der beste war, den sie bekommen konnten.
Als reisender Vertreter versäumte Chapman mehr Proben, als er ihnen
beiwohnte. Leider paßten seine regelmäßigen Vertreter Mick Avory (jetzt bei
den Kinks) und Steve Harris nicht in die Gruppe.
Monatelang hatten die Stones schon versucht, Charlie Watts zum Beitritt
zu überreden. Watts war äußerst vorsichtig. Er wollte für eine
Verpflichtung zumindest etwas
finanzielle Sicherheit. Als Designer für eine Reklamefirma auf der Regent
Street verdiente er £ 14 pro Woche plus seinen Konzerttantiemen.
Hatte er nicht schon die Blues Incorporated verlassen, weil der Job zu
regelmäßig wurde und man ihn vielleicht zum Profi machen wollte?
Andererseits wurde er zunehmend unzufrieden mit seiner eigenen Gruppe Blues
By Five (später By Six), die kaum Fortschritte machte. Schließlich brauchte
er Bedenkzeit wegen der etwas ungesunden Reputation, die sich dieser
gottverlassene Haufe namens "The Rolling Stones" zu erwerben begann.
Unterdessen stellte sich Ex-RAF-Bediensteter Bill Perks (geb. Wyman), der
neben Chapman in einer Südlondoner Rockband namens "The Cliftons" gespielt
hatte, kurz vor Weihnachten in der Wetherby Arms für die Position des
Bassisten vor. Wyman wurde nicht nur wegen seines Könnens herzlich
aufgenommen, sondern weil er mehr Verstärkergeräte zu besitzen schien, als
der ganze Rest der Gruppe.
Vor Ende Januar 1963 willigte Charlie Watts in die Dauereinladung ein,
Tony Chapman bei den Rolling Stones zu ersetzen.
Die Würfel waren gefallen.

Die Rolling Stones 1963 noch mit Ian Stewart (rechts oben mit Bongos)
Mit Mick Jagger (vocals), Keith Richard und Brian Jones (Gitarre), lan
Stewart (Piano), Bill Wyman (Baß) und Charlie Watts (Schlagzeug), tauchten
die Rolling Stones in IBCs Aufnahmestudios am Portland Place unter der Regie
ihres engen Freundes Glyn Johns auf. In nur drei Stunden schnitten und
mischten sie vier R&B Standards: 'I Wont To Be Love', 'Roadrunner', 'Diddley
Diddley Daddy' und 'Honey, What's Wrong'. Dann - es blieben ihnen nur noch
fünf Minuten auf der Studio-Uhr -rissen sie einen ungeschnittenen take von
Jimmy Reeds 'Bright Lights, Big City' herunter. Ein paar Tage später kamen
sie für eine sechste Aufnahme zurück, deren Titel später in Vergessenheit
geriet. Zu ihrem Ärger fanden sie nirgendwo einen Produzenten, der diese
Bänder herausgeben wollte.
Trotz ständiger Opposition aus der R&B-Gemeinde bekamen die Rolling
Stones allmählich regelmäßige Arbeit im schnell expandierenden R&B-Umkreis.
Jedoch waren sie auf der Suche nach einem festen Standort und planten ihr
Erscheinen auf dem renommierten Sonntag-Nachmittag-Konzert in Giorgio
Gomelskys Crawdaddy Club im Station Hotel, draußen in Richmond.
Die Dave Wood R&B Band kontrollierte den begehrten Standort, aber als es
aussah, als ob der Job frei würde, bedurfte es bei Gomelsky wenig
Überredungskunst, um die Rolling Stones zu engagieren.
Obwohl Charlie Watts die ersten beiden Konzerte im Crawdaddy spielte,
traten zwei von Cyril Davies Leuten, Carlo Little (Schlagzeug) und Ricky
Fenson (Baß) bei dem dritten Konzert der Stones mit auf. Die Zusammenarbeit
war schrecklich; obwohl beim Publikum Littles hartes Rock-Trommeln zu zünden
schien und Jones — wie immer von der Massenreaktion beeinflußbar — Carlo
Little für die Stones zu verpflichten suchte, wurde er überstimmt.
Obwohl niemals etwas unterzeichnet oder formal vereinbart worden war,
wurde der weißrussische Experimentierfilmer Giorgio Gomelsky zu einer Figur,
die für die bisherigen Erfahrungen der Stones einem Manager am nächsten kam,
und bald wurde der Crawdaddy zu einer sonntäglichen Touristenattraktion für
R&B-Fans ebenso wie für die Leute aus den Slums von Chelsea.
George Harrison war eine der ersten von vielen Größen, die die Rolling
Stones testeten, was die Richmond and Twickenham Times dazu
motivierte, über dieses Lokalphänomen zu berichten (s. S. 10).
Der freie Musikreporter Peter Jones war einer der
ersten Showbusiness-Schreiber, der zu ihnen pilgerte. Er kam herein, als
Gomelsky gerade filmte, wie die Stones Bo Diddleys 'Pretty
Thing' spielten, und stach Record Mirrors R&B-Experte Norman Jopling
damit aus. Es war auch Jones, welcher später das Allroundgenie Andrew Loog
Oldham informierte, daß Jopling plane, einen ekstatischen Bericht für
Record Mirror zu verfassen.
Am Sonntag, dem 28. April 1963, fuhr Oldham in Begleitung seines Chefs
Eric Easton nach Richmond hinunter. Easton zeigte sich beeindruckt, aber
reserviert. Oldham war sprachlos. Um George Melly zu zitieren: "Er starrte
Jagger an wie Silvester den Neujahrskuchen."
Am nächsten Tag unterschrieben Easton und Oldham mit den Rolling Stones
einen Exklusivvertrag, später behaupteten sie, sie hätten den anderen
Managern das Geschäft um 24 Stunden vor der Nase weggeschnappt.
Nun ist Rock 'n' Roll von seiner Natur her ein amoralisches Geschäft:
wahrscheinlich die gefräßigste Branche in der Konsumindustrie mit
Sofortumsatz. Das Produkt ist nicht für den Langzeitgebrauch bestimmt - es
ist in erster Linie hochgejubelt, aufregend, raffiniert und sorgfältig
verpackt, um das Sinnliche anzusprechen und eine zeitweilige Flucht aus dem
Alltag zu ermöglichen. Wenn ein Stil sein geschäftliches Potential zu
verlieren beginnt, wird er sofort abgesetzt und erscheint später, viel
später, nochmals in irgendeiner Nostalgiewelle. In einer solchen Atmosphäre
des Wettbewerbs behalten Künstler sowohl Popularität wie Glaubwürdigkeit
selten länger als fünf Jahre.
Loog Oldham — ein neunzehnjähriger gescheiteter, zum Hustler umgestülpter
Popsänger mit Managerambitionen im Mai 1963 erklärte: "Die Rolling Stones
sind nicht irgendeine Gruppe - sie sind ein Way of Life" - ein hübscher
Reklame-Gag, von dem Oldham wahrscheinlich annahm, daß er eine saure
Reaktion bei denen hervorrufen würde, die die schiere Existenz der Stones in
Abrede zu stellen suchten. Jedoch konnte damals Oldham kaum wissen, daß mehr
als ein Körnchen Wahrheit in diesem smarten Spruch lag.
Aufgemöbelt durch seine PR-Aktivitäten für die Beatles betrachtete Oldham
möglicherweise die Rolling Stones ursprünglich nur als eine angenehme
Zwischenmahlzeit bis zu dem Zeitpunkt, wo er seine eigene neue Show aufbauen
könnte. Solche Gedanken mußten sich aber verflüchtigen, als er erkannte, was
für ein Rohmaterial die Rolling Stones mitbrachten.
Plötzlich bot sich hier eine unwiederbringliche Gelegenheit. Genau wie
Brian Epstein sowohl Persönlichkeit und Ausdrucksmöglichkeiten durch
die Beatles gefunden hatte, so entschloß sich Oldham, um künstlerische
Genugtuung zu finden, die Rolling Stones als eine Projektion seines eigenen
Ego zu nutzen.
Mit dieser Absicht setzte sich Oldham sofort daran, eine Nachfrage nach
den Rolling Stones zu erzeugen, indem er eiskalt einen Künstler gegen den
anderen ausspielte -aber dabei Dick Rowe von Decca nicht aus den Augen ließ
(derselbe, der zu seiner ewigen Schande die Beatles hatte abfahren lassen).
Rowe unterzeichnete schließlich mit den Rolling Stones einen
Plattenvertrag, der ihm die Rechte für eine Summe überließ, die sich nur mit
der der internationalen Plattengrößen vergleichen ließ.
Obwohl lan Stewart niemals offiziell die Rolling Stones verließ, gab ihm
Oldham zu verstehen, daß sein eher straightes Image nicht zu dem passe, was
Oldham sich für seine Schützlinge ausgedacht hatte.
Eine Woche später kamen die Stones für Probeaufnahmen in die Olympic
Sound Studios, als Oldham in den Kontrollraum stapfte und dem Toningenieur
Roger Savage verkündete: "Schau mal, ich bin der Produzent und das ist die
erste Aufnahme-Session, die ich je gemacht habe. Ich habe keine blasse
Ahnung von Aufnahmen oder Musik."
Nicht nur kam die allererste Single der Rolling Stones: 'Come On' am 7.
Juni 1963 heraus, sondern es gelang der Gruppe auch nach langem Hin und Her,
ihr TV-Debüt in der Nr. l show Thank Your Lucky Stars'.
Während der Übertragung zog sich ein TV-Produzent Oldham auf die Seite
und vertraute ihm an, daß, falls Oldham irgendwelche Ambitionen hätte, die
Rolling Stones irgendwohin zu bringen, dann sollten sie besser ihren mies
aussehenden Sänger mit seinem Froschmaul loswerden ... |