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Archiv Rock und Revolte
Texte

 

Neue Romantik

von Peter Pachnike

„Trash", zu deutsch Müll, ist der Titel des letzten Films Andy Warhols. Erzählt wird die Geschichte des Fixers Joe, der angeekelt von seinem gutbürgerlichen Zuhause zuerst in die politische Bewegung, schließlich in die Drogen geflohen ist. Ausgebrochen mit der Absicht, die Gesellschaft zu verändern, endet er mit dem Wunsch, von ebendieser Gesellschaft Wohlfahrtsunterstützung zu erhalten. Ein Film und doch nicht nur Fiktion. Drop-outs, Ausgestiegene, werden die Jugendlichen in den USA genannt, die sich vom sinnentleerten Alltag, von Akkordarbeit, sozialer Ungleichheit, Konsumzwang und Meinungsterror durch „Verweigerung" befreien wollen. Statt Revolutionierung der Gesellschaft Flucht aus ihr: Suche nach Freiräumen, in denen sie hoffen, in Gemeinschaften frei von den Zwängen ihrer Gesellschaft leben zu können. Vielfältig sind ihre Fluchtwege. Wohin?
Zurück in die 'Natur

Dem Ruf der Yippi-Organisation „Youth-International-Party": „Steigt aus, macht euch illegal" folgten in der Bundesrepublik Tausende von Jugendlichen, sie zogen aus den Schulen und Betrieben in exotische Teestuben mit Beat, Drogengeflüster und asiatischen Brettspielen, und nach dem Vorbild ihrer Väter, der Wandervögel, aufs Land. Sie nennen sich nicht mehr Kommunen, sondern Sippen, nicht mehr Kommunarden, sondern Brüder, lesen nicht mehr Marx, sondern Hesse und Novalis.

Im mittelfränkischen Dorf Kucha beispielsweise lebt eine zwanzigköpfige Sippe ehemaliger Anarchisten, Schüler, Studenten: Gemeinsam bestellen sie mit primitivsten Geräten den Acker. Ihr einziger „Brückenkopf" zur Gesellschaft ist ein Laden, dazu eine Kneipe, wo sie ihre Waren verkaufen. Was sich wohl die Behörden dabei denken, wenn sie zusehen, wie in ähnlichen „Brückenköpfen" auch Drogen und harte Pornoprodukte gehandelt werden? Und warum wohl ist der Mann, der sich für den Vertrieb von Untergrundzeitungen wie die in Kucha herausgegebene „Pängg" (Auflage 5000) „aufopfert", ein Herr Ulkus Molle, bürgerlicher Name Josef Wintjes, bürgerlicher Beruf Kaufmann des Kruppkonzerns?

Das Interesse der Herrschenden an einem solchen Fluchtweg ist nicht zu übersehen. So legalisierte die Verwaltung der Frankfurter Universität, die bei linken Aktionen mit dem Ruf nach Polizei noch nie gezögert hat, im vergangenen Sommer die Besetzung von fünf leerstehenden Institutsgebäuden, nachdem die Drop-outs versichert hatten, es ginge ihnen um die Chance, die Suche nach dem Selbst zu betreiben. Statt polizeilicher Austreibung und gerichtlicher Verfolgung bekamen auch Hamburgs „Brüder" Unterstützung des Senats in Form eines Stadthauses und eines Bauernhofes, nebst einem renovierten Feuerwehrwagen, der den Pendelverkehr zwischen dem städtischen „Brückenkopf" und der ländlichen „Sippe" ermöglicht. Auf teuerstem Münchener Boden, der Schwabinger Herzogstraße, schließlich ist mit öffentlicher Unterstützung ein Basar entstanden, der allen rings um München ansässigen Drop-outs Ausstellungsmöglichkeiten ihrer selbst und ihrer handgewerkelten Produkte garantiert, „öffentliche Förderung genießen", so weiß der Spiegel zu verallgemeinern, „politisch passive Kommunen."

Losung „Alle reden vom Wetter, wir nicht" das „Alle reden vom Umstur/, wir nicht" gesetzt hat. Es sind Zeichen dafür, daß diese Art „großer Verweigerung", dieses „Zurück-zur-Natur", zu ländlicher Produktionsweise und Manufaktur, kein Aufbruch in eine neue Gesellschaft ist, sondern der Rückzug in die Vergangenheit, romantische Sehnsucht nach einer vorkapitalistischen Welt, vorgestellt ohne Hektik, Akkord, Flüchtigkeit, Unsicherheit, ohne die Jagd nach dem Geld, ohne Aggressivität und Verarmung der menschlichen Beziehungen.

Diese jungen Menschen fliehen aus der Gesellschaft nicht wegen der angeborenen Unfähigkeit, in einer „industrialisierten" Welt zu bestehen, sondern weil das Gesetz der Unterordnung der menschlichen Beziehungen unter das Prinzip der Profitmaximierung ihnen jene Bildung vorenthalten hat, die der Mensch braucht, um wissend Verhältnisse durchschauen zu können, weil das Herrschaftssystem ihnen gesellschaftliche Mitbestimmung verwehrt und sie damit von den Bedingungen selbstbewußten Handelns ausschließt. Es ist die Hilflosigkeit der nichtorganisierten Ausgebeuteten gegen diese anachronistischen Mächte, die sich hinter den romantischen Fluchtversuchen verbirgt. Die „kaputten Typen" sind die psychischen und physischen Frühinvaliden des Systems. Meinte der auf Systemstabilierung höchst bedachte Futurologe Peter Drucker zunächst, den „Luxus der Hippies" könne sich die Gesellschaft nur für „sehr wenige Leute leisten" — sozusagen als Enklave, in der sie sich auf Kosten der Gesellschaft resozialisieren sollen —, so sind inzwischen die Herrschenden mehr als nur bereit, romantische, das System nicht in Frage stellende Fluchtwege zu tolerieren und finanziell zu unterstützen; ihre Ideologen sind schon dabei, unter Mißbrauch sozialpsychologischer und soziologischer Erkenntnisse bewußt Enklaven zu projektieren, die den friedlichen (sprich: reibungslosen) Ablauf des imperialistischen Betriebes gewährleisten. So sieht der Schweizer Futurologe Bruno Fritsch im voraus schon die Entwicklung „neuer Verwirklichungsmöglichkeiten für Eremiten, Yogies oder für den Einzelgängerhippy. Während es kaum größere Schwierigkeiten bereiten dürfte, mittels moderner Kommunikationsintensivierung und auch Kommunikationsabschirmung Verwirklichungsbereiche für solche Subsysteme zu schaffen, die keiner territorialen Organe bedürfen, wird für territorial orientierte Verwirklichungsbereiche (Reservate) ein besonderes Stabilisierungsmanagement erforderlich sein, um Ausbrüche, Expansionen, Usurpationen, unkontrollierbare Instabilitäten zu vermeiden." Spätestens hier wird deutlich, daß die sogenannten Subkulturen (die sich gern als Gegengesellschaft und Gegenkultur begreifen) nicht den Zweck haben, zukünftige Gesellschaft vorzubereiten, — für deren Durchsetzung es nach der Gewinnung der Elite „nur noch" der Massenbasis bedarf. Es sind umzäunte Enklaven, die denen zugestanden, wenn nicht schon zugewiesen werden, die sich nicht in den imperialistischen Leistungsmechanismus integrieren wollen.

Der Mythos von den Leistungsverweigerern

Ihre Fluchtwege sollen nur der herrschenden Ideologie als Beweis dafür dienen, daß nicht nur hinter Rockern, Hippies, Beatnicks und Fixern, sondern auch hinter protestierenden Lehrlingen und Studenten angeblich „nichts anderes steht, als das vehemente Zurückschrecken vor der kühlen, technischen Rationalität der Gegenwart ... die große Weigerung angesichts der modernen Asphalt- und Computerwelt" (Joachim Fest). Und schon erkennt in der „Frankfurter Rundschau" H. Salzinger die Jugendbewegung seit 1968 insgesamt „als Versager": „Diese jungen Leute werden nichts verändern oder verbessern." Ob Hippies und Provos, ob aufsässige Lehrlinge, revoltierende Studenten, sie sind ihm nichts anderes als Outsider, Leistungsverweigerer. Revolutionäre werden hier wie Drogensüchtige oder Naturromantiker als Versager gegenüber den Leistungsanforderungen der „Industriegesellschaft" diffamiert, zum Industriegesellschaftsmüll erklärt. Deshalb also ist den Herrschenden der Begriff „Leistungsverweigerer" so angenehm.

Er hat aber nicht nur die ideologische Funktion, imperialistische Gesellschaftsverhältnisse zu verschleiern; mit der Gleichsetzung von Drogengenuß und politischem Kampf der Jugend hilft er zudem die demokratische und sozialistische Bewegung als bloße „Leistungsverweigerung", als spezielle Form der Romantik, zu denunzieren. Deshalb erleben wir jetzt vielfältige Bemühungen um die Entwicklung einer Theorie, nach der jeder Jugendliche, dem die Integration in die imperialistische Gesellschaft beschwerlich ist und mißfällt, einen romantischen Kreislauf durchlaufen muß. Suggeriert werden soll, daß Lehrlings- und Studentenproteste nichts anderes als Phasen in der aufhaltsamen Rückkehr der verlorenen Söhne sind, politische Umwege, die über die Flucht in Droge und Natur schließlich zurück in die bürgerliche Gesellschaft führen. So werden denn auch die Biographien derer durch die imperialistische Presse gewälzt, die von „links"-individualistischen Positionen nicht zur demokratischen und sozialistischen Bewegung fanden, sondern in die Enklaven des Systems flohen. Anna Bloch zum Beispiel, die als Kind gutbürgerlicher Eltern in linksradikalen Schülerorganisationen und maoistischen Splittergruppen mitmachte und sich nun „in der Teestube von ,Knubbes-Afa-Kreativ-Gemeinschaft' wohlfühlt", weil die Brüder „unheimlich dufte tun und aussehen". Oder der Anarchist Rüdiger Klau, der sich durch Land- und Sippenleben verändert fühlt: er sieht wieder, „wie was wächst". Solche Stories sollen den natürlichen Kreislauf von der politischen Jugendbewegung damals zur Landflucht heute beweisen. Es wird indes lediglich bewiesen, daß ein Teil der Jugendlichen, die im Jahre 1968 „anpolitisiert" wurden, vor allem infolge kleinbürgerlicher Bindungen nicht zum organisierten Kampf gefunden hat. Kaum berichtet wird dagegen, wie sich die demokratische und sozialistische Linke in Westdeutschland seit dieser Zeit entwickelt. Zwar hat sich der SDS aufgelöst, aber die der DKP kämpferisch verbundene Studentenorganisation Spartakus ist heute an den Universitäten der stärkste, weil zielklarste und organisierteste Verband. Ihm kann die bürgerliche Presse so wenig Realitätsferne nachsagen, wie der SDAJ, der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend, mit ihren 23 000 arbeitenden Mitgliedern. Von der Politromantik kommend, gibt es eben zwei Wege, den in die Nüchternheit des antiimperialistischen Kampfes (der revolutionäre Romantik, das Recht auf den Traum, den es zu verwirklichen gilt, keinesfalls ausschließt) und den aus der Wirklichkeit. Dieser wird vom System honoriert, prämiiert, subventioniert. Ebenso folgerichtig wird die SDAJ als einziger Jugendverband dieser Größenordnung von der „öffentlichen Hand" nicht unterstützt, sondern — wie Spartakus oder DKP — in ihrer Arbeit behindert und mit Kriminalisierung bedroht. Die herrschenden Kreise wissen allzu gut, daß sie es hier nicht mit politromantischer Flucht zu tun haben, sondern mit Klassenkampf. Um der Jugend diese Orientierung zu nehmen, um das Wachstum der demokratischen und sozialistischen Kräfte zu überdecken, deshalb werden ehemalige Anarchisten, wie Raymond Martin (Häuptling der Kucha-Sippe), zu vielzitierten Lieblingskindern: „Revolution? Quatsch und vorbei". So werden triumphierend die Zeugnisse der Rückkehr der verlorenen Söhne vertrieben.

In einem Punkt verdienen die Biographien der Drop-outs unser Interesse: Viele der Anpolitisierten begannen im Anblick der Beschwerlichkeit organisierten und disziplinierten antiimperialistischen Kampfes mittels der Droge aus der Wirklichkeit in die Welt des Scheins umzusteigen, die Veränderung nicht mehr von ihrer revolutionären Arbeit, sondern dem durch die Droge „erweiterten" Bewußtsein zu erwarten. Mit der Droge fing der Trip in die Innerlichkeit an. Und er ging weiter.

Das Rauschgift hat die Leute, so berichtet der Chef des „Krisenzentrums" in Atlanta, „für Vorgänge außerhalb unseres Erfahrungsbereichs empfänglich gemacht" — und er zählt auf: Astrologie, schwarze Magie, hellseherische Fähigkeiten, Religion. In der Tat sind inzwischen viele der in den USA lebenden Sippen vom Rauschgift auf Jesus umgestiegen.

„Jesus ist der größte Trip"

Als vor vier Jahren in Amerika junge Leute auf der Straße aus Bibeln zu lesen begannen und Jesus als den größten Revolutionär priesen, schien niemand zu ahnen, daß sich daraus eine Massenbewegung entwickeln würde. „Gesucht wird", heißt es in einer der fünfzig auflagenstarken Jesus-Zeitschriften (die "Hollywood Free" erscheint allein in 400 000 Exemplaren), „Jesus Christus, äußere Erscheinung typischer Hippy ... langes Haar, Bart, Robe, Sandalen ..." Millionen Jugendliche hat diese Bewegung in letzter Zeit allein in den Vereinigten Staaten erfaßt. Fast alltäglich geworden sind die Massenzeremonien, bei denen sich Tausende unter dem Klang von Chorälen im Beatrhythmus an den Stranden taufen lassen.

Die Jesus-Bewegung schien zunächst wenig mehr als eine neue Mode, eine frisch entdeckte Marktlücke, die mit amerikanischer Geschäftsgründlichkeit und Werbespektakelzubehör aufbereitet und erschlossen wurde; schließlich hatte man manches Geschäft mit den „Linken" gemacht, warum also nicht auch Jesus vermarkten. So wurden Jesushemden, Anstecknadeln mit frommen Sprüchen („Lächle, Gott liebt dich") gehandelt, Jesusplakate und Jesusfilme erschienen, man warb mit Jesus für alle möglichen Produkte, Platten- und Kassettenfirmen warfen die neuesten Hits aus der zur „Rock-Oper" ver-beateten Passionsgeschichte „Jesus Christus Superstar" auf den Markt. Die Namen der Jesus-Beat-Gruppen paßten sich an — nicht mehr „Rolling Stones" oder „Revolution", sondern „Hoffnung", „Taube", „Freudebringender Klang", „Der ewige Rausch"; ihre Titel ebenfalls: „Jesus is just alright", „Remember Betlchem". Und Schlagerstar Pat Boone spielte die Hauptrolle in dem Film von der Bekehrung des Bandenführers Lord Nicky Couz zum Jesus-Jüngling; er erzählt die Geschichte zweier junger Prediger, die barfuß auf Jesu Pfaden mit einem Holzkreuz durch Amerika pilgern, auf dem geschrieben steht: „Jesus ist der größte Trip".

Trotz der Profite, die mit Jesus gemacht werden, läßt sich die Jesus-Bewegung so wenig auf das Problem eines neu erschlossenen Marktes reduzieren wie auf eine bloße Manipulation der Anhänger dieser Bewegung durch die Massenmedien. Diese Religiosität ist so wenig wie irgendeine andere bloßer „Priesterbetrug". Sie ist Fluchtweg aus einem Alltag der Existenzunsicherheit, der Beziehungsarmut, des Verlustes menschlicher Werte, aus einer Welt, in der man sich als ausgeschlossen von der Veränderung der Gesellschaft erlebt. Sie ist zugleich Reaktion auf Vietnam, Kambodscha, auf die Unsicherheit der Arbeitsplätze, auf die Diskriminierung der Neger, das Wachstum der Kriminalität, sie ist die resignierende Suche nach einer heilen Welt jenseits der Wirklichkeit, abseits der aktiv die Gesellschaft verändernden politischen Bewegung. Was ihnen bleibt, ist das Beten. „Ich bin so ausgefüllt von Jesus ... Jesus ist wahnsinnig schön . . . dufte ... ich spüre Jesus in mir . .. Jesus der tollste Trip . .. high von Jesus", so artikulieren Jesus-Anhänger ihre aus der Angst vor den wirklichen Verhältnissen entstandenen religiösen Gefühle.

In der Bundesrepublik, wohin die Jesusbewegung, von den Massenmedien sofort hochgespielt, seit Monaten übergegriffen hat, wird in den Antworten von jugendlichen Jesusanhängern die Resignation gegenüber den Herrschaftsverhältnissen als Ursache des Trips in die Innerlichkeit deutlich: „Ich bin jetzt vierundzwanzig", gibt Gabi K. aus Helm-stedt zu Protokoll, „ich habe demonstriert, die Bullen haben mich zusammengeschlagen. Wir haben gehascht, und die Bullen saßen nebenan. Laßt mich doch in Ruhe mit dem Scheißverein. Ich will nichts mehr ändern. Es ist schön, wenn man weiß, man ist trotzdem nicht verloren, sondern Jesus hat einen gerettet." Und Klaus Kopaun, ehemals SDS: „Wir haben's doch versucht! Was ist passiert: Nichts. Wir haben's wirklich versucht. Diese Gesellschaft ist doch so beschissen. Ich glaub" nicht mehr, daß wir was machen können. Gegen die Strauß' und Flicks kommt man nicht an." Das Debakel der eigenen politischen Vorstellungen wird ausgedehnt auf Politik schlechthin, ja diese wird nun zur Ursache der „Entfremdung" erklärt. Patentlösung wird eine auf passive Duldung reduzierte Liebe zu Menschen im allgemeinen, zu Unternehmern, Politikern und Polizisten im besonderen. Nicht im System, in der eigenen „Lieblosigkeit" suchen sie den Schuldigen. Indem sie sich selbst bezichtigen, helfen sie sich selbst unterdrücken.

Das macht die „Jesus-Revolution" den Herrschenden sympathisch. So zahlt und organisiert der Millionär Bill Bright den jährlichen Campus-Kreuzzug der Jesus-Anhänger mit zwölf Millionen Dollar und dreitausend angestellten Missionaren. „Unser Ziel ist es", verkündete er, „bis 1976 die USA und bis 1980 die ganze Welt mit dem Evangelium Christi zu erobern."

Aber nicht nur die finanzielle Unterstützung, auch der Beifall kommt von rechts. So lobt Bild am Sonntag den Jesus-Kult als Bekehrung der rebellischen Jugend aus ihrer „fehlgeleiteten Sturm-und-Drang-Zeit". Und die Welt am Sonntag feiert die Moral der Jesus-Jünglinge, die „ohne Vandalieren, zügellosen Rauschgiftgenuß, sexuelle Liber-tinage" zu leben wünschen; die Polizei wird belobt, weil sie begonnen habe, die „sauberen, gesetzten Hippies" zu lieben. Der Jesus-Kult ist ihnen der effektivste Fluchtweg, denn er verspricht nicht nur den Rauschgiftverbrauch einzuschränken (der allmählich über die Kampfunfähigkeit der GI's in Vietnam hinaus mehr und mehr auch die Verwertbarkeit beeinträchtigt), er ist auch der entmündigendste. Dieser Jesus-Kult ist das Gegenteil jener linken Bestrebungen in der katholischen und evangelischen Kirche, die die christliche Botschaft zunehmend als Auftrag, die menschlichen Verhältnisse zu verändern, begreifen. Die Jesus-Bewegung erwartet von oben, was nur von unten gelöst werden kann: die Veränderung der Gesellschaft. Statt die Welt zu verändern, zielt sie ausschließlich auf Veränderung der Innerlichkeit. Das ist der reaktionäre Kern der neuen Romantik, die in der Jesus-Bewegung nun ihr Lieblingskind gefunden hat. Wen wundert's, daß Presse, Funk und Fernsehen da sofort einsteigen. Man hat ein Interesse daran, das Image einer „befriedeten" Jugend zu pflegen, die durch Jesus high geworden ist, getröstet durch ihre Illusionen, abseits von der Veränderung der herrschenden Besitz- und Machtverhältnisse.

Jesus-Bewegung als Flucht in die Innerlichkeit hat in der Bundesrepublik ebenso wie in den USA ihre Vorläufer in Rock-Festivals, Psychodelik, Drogen, Okkultismus, fernöstlicher Mystik. Jesus ist also bloß eine der Stationen auf dem romantischen Weg einer entfremdeten Jugend aus der Wirklichkeit. Dabei ist diese Flucht, ob in Natur oder Religion, für die Mehrzahl der Jugendlichen auf die Freizeit beschränkt; tagsüber arbeiten sie gewöhnlich brav fürs Kapital.

Das aber, was sich als Subkultur bezeichnet, ist ebenfalls zumeist nur das imperialistische Freizeitangebot an illusionären Ersatzwelten für den durch Elternhaus und Schule zur Unmündigkeit kultivierten Durchschnittsjugendlichen. Was er für „seine" Jugendkultur hält, wurde für seine manipulierten Wünsche zurechtgemacht, und die „neue Romantik" liefert dafür die Stilelemente, im Dutzend billiger. Jene Gruppen aber, die — teils schon begleitet von Teleobjektiven und Richtmikrophonen — immer aufs neue „ausbrechen", um sich der Gesellschaft total zu verweigern, helfen so das imperialistische Freizeitangebot zu mehren; denn was sie an Fluchtwegen auskundschaften, verbreiten und vermarkten die Herrschenden sofort zum neuesten Stand, zum letzten Schrei — modischer Wandel der Fluchtwege, um die Jugend von politischer Bewußtheit desto effektiver fernzuhalten. Das ist der Zusammenhang zwischen der romantischen Suche nach politischen Freiräumen und ihrer Umfunktionierung zur Teenager-Fair, zur Manipulation der Freizeit der nichtorganisierten Jugend. So helfen sie mit am Ausbau dessen, vor dem sie fliehen. Die meisten unbewußt, andere aber auch schon bewußt. So zielte die Gründung der Langhans-Kommune in München von vornherein auf kommerzielle Verwertbarkeit ihrer Drop-out-Lebensweise. Ihr Konzept, für die Massenmedien berichtenswert zu leben, erlaubte zunächst noch, eigenes — exotisches — Selbstvcrständnis anzubieten, um bald nur noch das abzuliefern, was „die Leute" bei den Interviews hören und sehen wollten. So brachte es diese Clique zu sieben Autos und einem Schloß mit 25 Zimmern, Miete 4000 Mark. Sie enthüllte sich selbst — und zugleich die kommerzielle und ideologische Funktion von Fluchtwegen für den imperialistischen Freizeitbetrieb: Sie verdienen sich ihr Geld, sie lieferten einen verwertbaren Markenartikel. Sie wußten, wo er gefragt war. Sie wandten sich mit dem Angebot zum Verkauf ihrer Ware an Springers Illustrierten-Agenten, Josef von Ferenczy. Die sich einst ultra-„links" gebärdet hatten, erwarteten die Kommerzialisierung ihrer Lebensweise von der extremen Rechten. Und die hat Bedarf — und sie hat damit auch Erfolge. Während die geheimen Vietnam-Dokumente aus dem Pentagon den menschenfeindlichen und aggressiven Charakter der imperialistischen Politik enthüllen, wird über die „Love story" geweint und der weichen Welle in der Pop-Musik, den melancholischen Folk- und Country-Melodien gelauscht, und auch die Kinos steigen schon um auf Märchen und Verzauberung. Emanzipation der Frau ist passe, um den Lebensgefährten wirbt man nicht mehr mit „Suche Linksüberholer", sondern „Suche Romantiker" und „Wer kann mit mir beten".

Die weiche Welle dieser „friedlichen" Jugend soll ihren Ausgang auf dem Pop-Festival in Woodstock genommen haben, als 300 000 Jugendliche tagelang in der Magie der Pop-Musik versanken. Würde man den Massenmedien glauben, müßte heute die ganze Jugend der westlichen Welt so sein. Sie ist es aber nicht, zum einen, weil dieses Bild einer entpolitisierten, verträumten Jugend die politisch organisierten jungen Arbeiter, Lehrlinge, Studenten und Schüler bewußt ausklammert, zum anderen, weil es nicht nur Woodstock gab, sondern auch Los Altamot, wo im Dezember 1969 fanatisierte Hörer der Rolling Stones ein blutiges Massaker anrichteten. Offenbar finden sich auch unter der „friedlichen" Jugend nicht wenige, die „den globalen dritten großen Krieg ... als notwendige Erscheinung der geistigen, bewußten Evolution des Menschen" betrachten. Nachzulesen im Spiegel. Diese „friedliche" Jugend ist also zur Gewalt mißbrauchbar — ist faschisierbar —, weil sie unmündig gemacht worden ist, weil sie nicht in sich, sondern in Führern die Maximen ihres Handelns sucht, überweltlichen oder aber weltlichen. Auf dem Büchermarkt gibt es einen neuen Bestseller: „Die Kinder von Torremolinos" des Amerikaners J. Michener, ein Roman über das Mekka der Drop-outs: „In Torremolinos", heißt es da, „gibt es kaum Enttäuschungen. Da gibt es Musik und Strand und junge Leute, die den Kalender verloren haben." Torremolinos ist ein Ort in Spanien.

 

Quelle:  Der Artikel erschien in der Zeitschrift KÜRBISKERN Nr. 2/72, S.279ff.
 

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