Zurück in die 'NaturDem Ruf der Yippi-Organisation „Youth-International-Party":
„Steigt aus, macht euch illegal" folgten in der Bundesrepublik Tausende von
Jugendlichen, sie zogen aus den Schulen und Betrieben in exotische Teestuben
mit Beat, Drogengeflüster und asiatischen Brettspielen, und nach dem Vorbild
ihrer Väter, der Wandervögel, aufs Land. Sie nennen sich nicht mehr
Kommunen, sondern Sippen, nicht mehr Kommunarden, sondern Brüder, lesen
nicht mehr Marx, sondern Hesse und Novalis.
Im mittelfränkischen Dorf Kucha beispielsweise lebt eine zwanzigköpfige
Sippe ehemaliger Anarchisten, Schüler, Studenten: Gemeinsam bestellen sie
mit primitivsten Geräten den Acker. Ihr einziger „Brückenkopf" zur
Gesellschaft ist ein Laden, dazu eine Kneipe, wo sie ihre Waren verkaufen.
Was sich wohl die Behörden dabei denken, wenn sie zusehen, wie in ähnlichen
„Brückenköpfen" auch Drogen und harte Pornoprodukte gehandelt werden? Und
warum wohl ist der Mann, der sich für den Vertrieb von Untergrundzeitungen
wie die in Kucha herausgegebene „Pängg" (Auflage 5000) „aufopfert", ein Herr
Ulkus Molle, bürgerlicher Name Josef Wintjes, bürgerlicher Beruf
Kaufmann des Kruppkonzerns?
Das Interesse der Herrschenden an einem solchen Fluchtweg ist nicht zu
übersehen. So legalisierte die Verwaltung der Frankfurter Universität, die
bei linken Aktionen mit dem Ruf nach Polizei noch nie gezögert hat, im
vergangenen Sommer die Besetzung von fünf leerstehenden Institutsgebäuden,
nachdem die Drop-outs versichert hatten, es ginge ihnen um die Chance, die
Suche nach dem Selbst zu betreiben. Statt polizeilicher Austreibung und
gerichtlicher Verfolgung bekamen auch Hamburgs „Brüder" Unterstützung des
Senats in Form eines Stadthauses und eines Bauernhofes, nebst einem
renovierten Feuerwehrwagen, der den Pendelverkehr zwischen dem städtischen
„Brückenkopf" und der ländlichen „Sippe" ermöglicht. Auf teuerstem Münchener
Boden, der Schwabinger Herzogstraße, schließlich ist mit öffentlicher
Unterstützung ein Basar entstanden, der allen rings um München ansässigen
Drop-outs Ausstellungsmöglichkeiten ihrer selbst und ihrer handgewerkelten
Produkte garantiert, „öffentliche Förderung genießen", so weiß der
Spiegel zu verallgemeinern, „politisch passive Kommunen."
Losung „Alle reden vom Wetter, wir nicht" das „Alle reden vom Umstur/,
wir nicht" gesetzt hat. Es sind Zeichen dafür, daß diese Art „großer
Verweigerung", dieses „Zurück-zur-Natur", zu ländlicher Produktionsweise und
Manufaktur, kein Aufbruch in eine neue Gesellschaft ist, sondern der Rückzug
in die Vergangenheit, romantische Sehnsucht nach einer vorkapitalistischen
Welt, vorgestellt ohne Hektik, Akkord, Flüchtigkeit, Unsicherheit, ohne die
Jagd nach dem Geld, ohne Aggressivität und Verarmung der menschlichen
Beziehungen.
Diese jungen Menschen fliehen aus der Gesellschaft nicht wegen der
angeborenen Unfähigkeit, in einer „industrialisierten" Welt zu bestehen,
sondern weil das Gesetz der Unterordnung der menschlichen Beziehungen unter
das Prinzip der Profitmaximierung ihnen jene Bildung vorenthalten hat, die
der Mensch braucht, um wissend Verhältnisse durchschauen zu können, weil das
Herrschaftssystem ihnen gesellschaftliche Mitbestimmung verwehrt und sie
damit von den Bedingungen selbstbewußten Handelns ausschließt. Es ist die
Hilflosigkeit der nichtorganisierten Ausgebeuteten gegen diese
anachronistischen Mächte, die sich hinter den romantischen Fluchtversuchen
verbirgt. Die „kaputten Typen" sind die psychischen und physischen
Frühinvaliden des Systems. Meinte der auf Systemstabilierung höchst bedachte
Futurologe Peter Drucker zunächst, den „Luxus der Hippies" könne sich die
Gesellschaft nur für „sehr wenige Leute leisten" —
sozusagen als Enklave, in der sie sich auf Kosten der Gesellschaft
resozialisieren sollen —, so sind inzwischen die
Herrschenden mehr als nur bereit, romantische, das System nicht in Frage
stellende Fluchtwege zu tolerieren und finanziell zu unterstützen; ihre
Ideologen sind schon dabei, unter Mißbrauch sozialpsychologischer und
soziologischer Erkenntnisse bewußt Enklaven zu projektieren, die den
friedlichen (sprich: reibungslosen) Ablauf des imperialistischen Betriebes
gewährleisten. So sieht der Schweizer Futurologe Bruno Fritsch im voraus
schon die Entwicklung „neuer Verwirklichungsmöglichkeiten für Eremiten,
Yogies oder für den Einzelgängerhippy. Während es kaum größere
Schwierigkeiten bereiten dürfte, mittels moderner
Kommunikationsintensivierung und auch Kommunikationsabschirmung
Verwirklichungsbereiche für solche Subsysteme zu schaffen, die keiner
territorialen Organe bedürfen, wird für territorial orientierte
Verwirklichungsbereiche (Reservate) ein besonderes Stabilisierungsmanagement
erforderlich sein, um Ausbrüche, Expansionen, Usurpationen,
unkontrollierbare Instabilitäten zu vermeiden." Spätestens hier wird
deutlich, daß die sogenannten Subkulturen (die sich gern als
Gegengesellschaft und Gegenkultur begreifen) nicht den Zweck haben,
zukünftige Gesellschaft vorzubereiten, — für deren Durchsetzung es nach der
Gewinnung der Elite „nur noch" der Massenbasis bedarf. Es sind umzäunte
Enklaven, die denen zugestanden, wenn nicht schon zugewiesen werden, die
sich nicht in den imperialistischen Leistungsmechanismus integrieren wollen.
Der Mythos von den Leistungsverweigerern
Ihre Fluchtwege sollen nur der herrschenden Ideologie als Beweis dafür
dienen, daß nicht nur hinter Rockern, Hippies, Beatnicks und Fixern, sondern
auch hinter protestierenden Lehrlingen und Studenten angeblich „nichts
anderes steht, als das vehemente Zurückschrecken vor der kühlen, technischen
Rationalität der Gegenwart ... die große Weigerung angesichts der modernen
Asphalt- und Computerwelt" (Joachim Fest). Und schon erkennt in der
„Frankfurter Rundschau" H. Salzinger die Jugendbewegung seit 1968 insgesamt
„als Versager": „Diese jungen Leute werden nichts verändern oder
verbessern." Ob Hippies und Provos, ob aufsässige Lehrlinge, revoltierende
Studenten, sie sind ihm nichts anderes als Outsider, Leistungsverweigerer.
Revolutionäre werden hier wie Drogensüchtige oder Naturromantiker als
Versager gegenüber den Leistungsanforderungen der „Industriegesellschaft"
diffamiert, zum Industriegesellschaftsmüll erklärt. Deshalb also ist den
Herrschenden der Begriff „Leistungsverweigerer" so angenehm.
Er hat aber nicht nur die ideologische Funktion, imperialistische
Gesellschaftsverhältnisse zu verschleiern; mit der Gleichsetzung von
Drogengenuß und politischem Kampf der Jugend hilft er zudem die
demokratische und sozialistische Bewegung als bloße „Leistungsverweigerung",
als spezielle Form der Romantik, zu denunzieren. Deshalb erleben wir jetzt
vielfältige Bemühungen um die Entwicklung einer Theorie, nach der jeder
Jugendliche, dem die Integration in die imperialistische Gesellschaft
beschwerlich ist und mißfällt, einen romantischen Kreislauf durchlaufen muß.
Suggeriert werden soll, daß Lehrlings- und Studentenproteste nichts anderes
als Phasen in der aufhaltsamen Rückkehr der verlorenen Söhne sind,
politische Umwege, die über die Flucht in Droge und Natur schließlich zurück
in die bürgerliche Gesellschaft führen. So werden denn auch die Biographien
derer durch die imperialistische Presse gewälzt, die von „links"-individualistischen
Positionen nicht zur demokratischen und sozialistischen Bewegung fanden,
sondern in die Enklaven des Systems flohen. Anna Bloch zum Beispiel, die als
Kind gutbürgerlicher Eltern in linksradikalen Schülerorganisationen und
maoistischen Splittergruppen mitmachte und sich nun „in der Teestube von ,Knubbes-Afa-Kreativ-Gemeinschaft'
wohlfühlt", weil die Brüder „unheimlich dufte tun und aussehen". Oder der
Anarchist Rüdiger Klau, der sich durch Land- und Sippenleben verändert
fühlt: er sieht wieder, „wie was wächst". Solche Stories sollen den
natürlichen Kreislauf von der politischen Jugendbewegung damals zur
Landflucht heute beweisen. Es wird indes lediglich bewiesen, daß ein Teil
der Jugendlichen, die im Jahre 1968 „anpolitisiert" wurden, vor allem
infolge kleinbürgerlicher Bindungen nicht zum organisierten Kampf gefunden
hat. Kaum berichtet wird dagegen, wie sich die demokratische und
sozialistische Linke in Westdeutschland seit dieser Zeit entwickelt. Zwar
hat sich der SDS aufgelöst, aber die der DKP kämpferisch verbundene
Studentenorganisation Spartakus ist heute an den Universitäten der
stärkste, weil zielklarste und organisierteste Verband. Ihm kann die
bürgerliche Presse so wenig Realitätsferne nachsagen, wie der SDAJ, der
Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend, mit ihren 23 000 arbeitenden
Mitgliedern. Von der Politromantik kommend, gibt es eben zwei Wege, den in
die Nüchternheit des antiimperialistischen Kampfes (der revolutionäre
Romantik, das Recht auf den Traum, den es zu verwirklichen gilt, keinesfalls
ausschließt) und den aus der Wirklichkeit. Dieser wird vom System honoriert,
prämiiert, subventioniert. Ebenso folgerichtig wird die SDAJ als einziger
Jugendverband dieser Größenordnung von der „öffentlichen Hand" nicht
unterstützt, sondern — wie Spartakus oder DKP — in ihrer Arbeit behindert
und mit Kriminalisierung bedroht. Die herrschenden Kreise wissen allzu gut,
daß sie es hier nicht mit politromantischer Flucht zu tun haben, sondern mit
Klassenkampf. Um der Jugend diese Orientierung zu nehmen, um das Wachstum
der demokratischen und sozialistischen Kräfte zu überdecken, deshalb werden
ehemalige Anarchisten, wie Raymond Martin (Häuptling der Kucha-Sippe), zu
vielzitierten Lieblingskindern: „Revolution? Quatsch und vorbei". So werden
triumphierend die Zeugnisse der Rückkehr der verlorenen Söhne vertrieben.
In einem Punkt verdienen die Biographien der Drop-outs unser Interesse:
Viele der Anpolitisierten begannen im Anblick der Beschwerlichkeit
organisierten und disziplinierten antiimperialistischen Kampfes mittels der
Droge aus der Wirklichkeit in die Welt des Scheins umzusteigen, die
Veränderung nicht mehr von ihrer revolutionären Arbeit, sondern dem durch
die Droge „erweiterten" Bewußtsein zu erwarten. Mit der Droge fing der Trip
in die Innerlichkeit an. Und er ging weiter.
Das Rauschgift hat die Leute, so berichtet der Chef des „Krisenzentrums"
in Atlanta, „für Vorgänge außerhalb unseres Erfahrungsbereichs empfänglich
gemacht" — und er zählt auf: Astrologie, schwarze Magie, hellseherische
Fähigkeiten, Religion. In der Tat sind inzwischen viele der in den USA
lebenden Sippen vom Rauschgift auf Jesus umgestiegen.
„Jesus ist der größte Trip"
Als vor vier Jahren in Amerika junge Leute auf der Straße aus Bibeln zu
lesen begannen und Jesus als den größten Revolutionär priesen, schien
niemand zu ahnen, daß sich daraus eine Massenbewegung entwickeln würde.
„Gesucht wird", heißt es in einer der fünfzig auflagenstarken
Jesus-Zeitschriften (die "Hollywood Free" erscheint allein in 400 000
Exemplaren), „Jesus Christus, äußere Erscheinung typischer Hippy ... langes
Haar, Bart, Robe, Sandalen ..." Millionen Jugendliche hat diese Bewegung in
letzter Zeit allein in den Vereinigten Staaten erfaßt. Fast alltäglich
geworden sind die Massenzeremonien, bei denen sich Tausende unter dem Klang
von Chorälen im Beatrhythmus an den Stranden taufen lassen.
Die Jesus-Bewegung schien zunächst wenig mehr als eine neue Mode, eine
frisch entdeckte Marktlücke, die mit amerikanischer Geschäftsgründlichkeit
und Werbespektakelzubehör aufbereitet und erschlossen wurde; schließlich
hatte man manches Geschäft mit den „Linken" gemacht, warum also nicht auch
Jesus vermarkten. So wurden Jesushemden, Anstecknadeln mit frommen Sprüchen
(„Lächle, Gott liebt dich") gehandelt, Jesusplakate und Jesusfilme
erschienen, man warb mit Jesus für alle möglichen Produkte, Platten- und
Kassettenfirmen warfen die neuesten Hits aus der zur „Rock-Oper"
ver-beateten Passionsgeschichte „Jesus Christus Superstar" auf den Markt.
Die Namen der Jesus-Beat-Gruppen paßten sich an — nicht mehr „Rolling
Stones" oder „Revolution", sondern „Hoffnung", „Taube", „Freudebringender
Klang", „Der ewige Rausch"; ihre Titel ebenfalls: „Jesus is just alright", „Remember
Betlchem". Und Schlagerstar Pat Boone spielte die Hauptrolle in dem Film von
der Bekehrung des Bandenführers Lord Nicky Couz zum Jesus-Jüngling; er
erzählt die Geschichte zweier junger Prediger, die barfuß auf Jesu Pfaden
mit einem Holzkreuz durch Amerika pilgern, auf dem geschrieben steht: „Jesus
ist der größte Trip".
Trotz der Profite, die mit Jesus gemacht werden, läßt sich die
Jesus-Bewegung so wenig auf das Problem eines neu erschlossenen Marktes
reduzieren wie auf eine bloße Manipulation der Anhänger dieser Bewegung
durch die Massenmedien. Diese Religiosität ist so wenig wie irgendeine
andere bloßer „Priesterbetrug". Sie ist Fluchtweg aus einem Alltag der
Existenzunsicherheit, der Beziehungsarmut, des Verlustes menschlicher Werte,
aus einer Welt, in der man sich als ausgeschlossen von der Veränderung der
Gesellschaft erlebt. Sie ist zugleich Reaktion auf Vietnam, Kambodscha, auf
die Unsicherheit der Arbeitsplätze, auf die Diskriminierung der Neger, das
Wachstum der Kriminalität, sie ist die resignierende Suche nach einer heilen
Welt jenseits der Wirklichkeit, abseits der aktiv die Gesellschaft
verändernden politischen Bewegung. Was ihnen bleibt, ist das Beten. „Ich bin
so ausgefüllt von Jesus ... Jesus ist wahnsinnig schön . . . dufte ... ich
spüre Jesus in mir . .. Jesus der tollste Trip . .. high von Jesus", so
artikulieren Jesus-Anhänger ihre aus der Angst vor den wirklichen
Verhältnissen entstandenen religiösen Gefühle.
In der Bundesrepublik, wohin die Jesusbewegung, von den Massenmedien
sofort hochgespielt, seit Monaten übergegriffen hat, wird in den Antworten
von jugendlichen Jesusanhängern die Resignation gegenüber den
Herrschaftsverhältnissen als Ursache des Trips in die Innerlichkeit
deutlich: „Ich bin jetzt vierundzwanzig", gibt Gabi K. aus Helm-stedt zu
Protokoll, „ich habe demonstriert, die Bullen haben mich zusammengeschlagen.
Wir haben gehascht, und die Bullen saßen nebenan. Laßt mich doch in Ruhe mit
dem Scheißverein. Ich will nichts mehr ändern. Es ist schön, wenn man weiß,
man ist trotzdem nicht verloren, sondern Jesus hat einen gerettet." Und
Klaus Kopaun, ehemals SDS: „Wir haben's doch versucht! Was ist passiert:
Nichts. Wir haben's wirklich versucht. Diese Gesellschaft ist doch so
beschissen. Ich glaub" nicht mehr, daß wir was machen können. Gegen die
Strauß' und Flicks kommt man nicht an." Das Debakel der eigenen politischen
Vorstellungen wird ausgedehnt auf Politik schlechthin,
ja diese wird nun zur Ursache der „Entfremdung" erklärt. Patentlösung wird
eine auf passive Duldung reduzierte Liebe zu Menschen im allgemeinen, zu
Unternehmern, Politikern und Polizisten im besonderen. Nicht im System, in
der eigenen „Lieblosigkeit" suchen sie den Schuldigen. Indem sie sich selbst
bezichtigen, helfen sie sich selbst unterdrücken.
Das macht die „Jesus-Revolution" den Herrschenden sympathisch. So zahlt
und organisiert der Millionär Bill Bright den jährlichen Campus-Kreuzzug der
Jesus-Anhänger mit zwölf Millionen Dollar und dreitausend angestellten
Missionaren. „Unser Ziel ist es", verkündete er, „bis 1976 die USA und bis
1980 die ganze Welt mit dem Evangelium Christi zu erobern."
Aber nicht nur die finanzielle Unterstützung, auch der Beifall kommt von
rechts. So lobt Bild am Sonntag den Jesus-Kult als Bekehrung der
rebellischen Jugend aus ihrer „fehlgeleiteten Sturm-und-Drang-Zeit". Und die
Welt am Sonntag feiert die Moral der Jesus-Jünglinge, die „ohne
Vandalieren, zügellosen Rauschgiftgenuß, sexuelle Liber-tinage" zu leben
wünschen; die Polizei wird belobt, weil sie begonnen habe, die „sauberen,
gesetzten Hippies" zu lieben. Der Jesus-Kult ist ihnen der effektivste
Fluchtweg, denn er verspricht nicht nur den Rauschgiftverbrauch
einzuschränken (der allmählich über die Kampfunfähigkeit der GI's in Vietnam
hinaus mehr und mehr auch die Verwertbarkeit beeinträchtigt), er ist auch
der entmündigendste. Dieser Jesus-Kult ist das Gegenteil jener linken
Bestrebungen in der katholischen und evangelischen Kirche, die die
christliche Botschaft zunehmend als Auftrag, die menschlichen Verhältnisse
zu verändern, begreifen. Die Jesus-Bewegung erwartet von oben, was nur von
unten gelöst werden kann: die Veränderung der Gesellschaft. Statt die Welt
zu verändern, zielt sie ausschließlich auf Veränderung der Innerlichkeit.
Das ist der reaktionäre Kern der neuen Romantik, die in der Jesus-Bewegung
nun ihr Lieblingskind gefunden hat. Wen wundert's, daß Presse, Funk und
Fernsehen da sofort einsteigen. Man hat ein Interesse daran, das Image einer
„befriedeten" Jugend zu pflegen, die durch Jesus high geworden ist,
getröstet durch ihre Illusionen, abseits von der Veränderung der
herrschenden Besitz- und Machtverhältnisse.
Jesus-Bewegung als Flucht in die Innerlichkeit hat in der Bundesrepublik
ebenso wie in den USA ihre Vorläufer in Rock-Festivals, Psychodelik, Drogen,
Okkultismus, fernöstlicher Mystik. Jesus ist also bloß eine der Stationen
auf dem romantischen Weg einer entfremdeten Jugend aus der Wirklichkeit.
Dabei ist diese Flucht, ob in Natur oder Religion, für die Mehrzahl der
Jugendlichen auf die Freizeit beschränkt; tagsüber arbeiten sie gewöhnlich
brav fürs Kapital.
Das aber, was sich als Subkultur bezeichnet, ist ebenfalls zumeist nur
das imperialistische Freizeitangebot an illusionären Ersatzwelten für den
durch Elternhaus und Schule zur Unmündigkeit kultivierten
Durchschnittsjugendlichen. Was er für „seine" Jugendkultur hält, wurde für
seine manipulierten Wünsche zurechtgemacht, und die „neue Romantik" liefert
dafür die Stilelemente, im Dutzend billiger. Jene Gruppen aber, die — teils
schon begleitet von Teleobjektiven und Richtmikrophonen — immer aufs neue
„ausbrechen", um sich der Gesellschaft total zu verweigern, helfen so das
imperialistische Freizeitangebot zu mehren; denn was sie an Fluchtwegen
auskundschaften, verbreiten und vermarkten die Herrschenden sofort zum
neuesten Stand, zum letzten Schrei — modischer Wandel der Fluchtwege, um die
Jugend von politischer Bewußtheit desto effektiver fernzuhalten. Das ist der
Zusammenhang zwischen der romantischen Suche nach politischen Freiräumen und
ihrer Umfunktionierung zur Teenager-Fair, zur Manipulation der Freizeit der
nichtorganisierten Jugend. So helfen sie mit am Ausbau dessen, vor dem sie
fliehen. Die meisten unbewußt, andere aber auch schon bewußt. So zielte die
Gründung der Langhans-Kommune in München von vornherein auf kommerzielle
Verwertbarkeit ihrer Drop-out-Lebensweise. Ihr Konzept, für die Massenmedien
berichtenswert zu leben, erlaubte zunächst noch, eigenes — exotisches —
Selbstvcrständnis anzubieten, um bald nur noch das abzuliefern, was „die
Leute" bei den Interviews hören und sehen wollten. So brachte es diese
Clique zu sieben Autos und einem Schloß mit 25 Zimmern, Miete 4000 Mark. Sie
enthüllte sich selbst — und zugleich die kommerzielle und ideologische
Funktion von Fluchtwegen für den imperialistischen Freizeitbetrieb: Sie
verdienen sich ihr Geld, sie lieferten einen verwertbaren Markenartikel. Sie
wußten, wo er gefragt war. Sie wandten sich mit dem Angebot zum Verkauf
ihrer Ware an Springers Illustrierten-Agenten, Josef von Ferenczy. Die sich
einst ultra-„links" gebärdet hatten, erwarteten die Kommerzialisierung ihrer
Lebensweise von der extremen Rechten. Und die hat Bedarf — und sie hat damit
auch Erfolge. Während die geheimen Vietnam-Dokumente aus dem Pentagon den
menschenfeindlichen und aggressiven Charakter der imperialistischen Politik
enthüllen, wird über die „Love story" geweint und der weichen Welle in der
Pop-Musik, den melancholischen Folk- und Country-Melodien gelauscht, und
auch die Kinos steigen schon um auf Märchen und Verzauberung. Emanzipation
der Frau ist passe, um den Lebensgefährten wirbt man nicht mehr mit „Suche
Linksüberholer", sondern „Suche Romantiker" und „Wer kann mit mir beten".
Die weiche Welle dieser „friedlichen" Jugend soll ihren Ausgang auf dem
Pop-Festival in Woodstock genommen haben, als 300 000 Jugendliche tagelang
in der Magie der Pop-Musik versanken. Würde man den Massenmedien glauben,
müßte heute die ganze Jugend der westlichen Welt so sein. Sie ist es aber
nicht, zum einen, weil dieses Bild einer entpolitisierten, verträumten
Jugend die politisch organisierten jungen Arbeiter, Lehrlinge, Studenten und
Schüler bewußt ausklammert, zum anderen, weil es nicht nur Woodstock gab,
sondern auch Los Altamot, wo im Dezember 1969 fanatisierte Hörer der Rolling
Stones ein blutiges Massaker anrichteten. Offenbar finden sich auch unter
der „friedlichen" Jugend nicht wenige, die „den globalen dritten großen
Krieg ... als notwendige Erscheinung der geistigen, bewußten Evolution des
Menschen" betrachten. Nachzulesen im Spiegel. Diese „friedliche"
Jugend ist also zur Gewalt mißbrauchbar — ist faschisierbar —, weil sie
unmündig gemacht worden ist, weil sie nicht in sich, sondern in Führern die
Maximen ihres Handelns sucht, überweltlichen oder aber weltlichen. Auf dem
Büchermarkt gibt es einen neuen Bestseller: „Die Kinder von Torremolinos"
des Amerikaners J. Michener, ein Roman über das Mekka der Drop-outs: „In
Torremolinos", heißt es da, „gibt es kaum Enttäuschungen. Da gibt es Musik
und Strand und junge Leute, die den Kalender verloren haben." Torremolinos
ist ein Ort in Spanien.