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Archiv Rock und Revolte
Texte

 
Popmusiker
von Christel und Theo König
 
In bundesdeutschen Hitparaden und aus Musikautomaten hört man Schlager. Die meisten davon sind deutsche Schlager. Die Internationalisierung des Monopolkapitals — und damit für die BRD zuerst die Amerikanisierung weiter Lebensbereiche, später die EWG-Politik mit entsprechenden Entwicklungen im Schußfeld der Kulturindustrie — hat jedoch den Boden bereitet für die breite Aufnahme fremdsprachiger Schlager. Sie stellen heute einen großen Anteil der Hits in den Paraden und Automaten. Die westdeutsche und internationale Popmusik ist in der BRD zwar nicht so populär wie die Bezeichnung glauben machen will, aber sie gewinnt zusehends an Popularität.  Nach einer Infratest-Umfrage, die „Der Spiegel" 1971 veröffentlichte, bevorzugten damals schon zwei Drittel der westdeutschen Rundfunkhörer zwischen 14 und 20 Jahren Beatmusik.

Ein Zehntel des Gesamtumsatzes der westdeutschen Schallplattenindustrie im Jahre 1969, 560 Millionen Mark, wurde mit Produkten der Popmusik erzielt. In den USA machte sie ein Drittel des gesamten Umsatzes von 2 Milliarden Dollar aus. Die Popmusik firmiert unter dem Markenzeichen „progressiv". Die Industrie suggeriert wirksam, daß diese Musik die progressiven Ansätze und Bewegungen der Jugendlichen unterstützt. Dieses Täuschungsmanöver und die Zerschlagung der illusionären Hoffnungen von Underground-Jüngern und Subkulturstrategen auf die dauerhafte Einrichtung von Foren einer „Gegenkultur" sichern der Popmusik eine Massenanziehungskraft.

Für die Produktion von Schlager- und Popmusik ist eine gigantische Industrie entstanden. Für die kapitalistische Verwertung ihrer Produkte ist der Tauschwert allein wichtig. Die unmittelbaren Produzenten verfügen nicht über Produktionsmittel und besitzen kein Mitbestimmungsrecht. Der Schlagerstar singt nicht, was er denkt, empfindet oder erfahren hat. Für den Text ist der Schlagertexter zuständig. Die Musik schreiben Komponist und Arrangeur. Für Radio, Fernsehen und Schallplatte wird sie von gemieteten Studiomusikern und eventuell von einem Studiochor produziert, die Soundrealisierung bestimmen Aufnahmeleiter und Tontechniker, Auswahl und Festlegung der Reihenfolge für Schallplatte nimmt die Produktionsleitung des Konzerns vor, die Verträge macht der Manager oder eine große Managementgesellschaft, öffentliche Auftritte und Präsentation in den Medien besorgen Management, Künstleragenturen und PR-Abteilungen des Konzerns.

Wenn der Star z. B. eine Brille braucht oder eine Glatze bekommt, sind diese Leute verantwortlich für attraktive, d. h. marktgerechte Veränderung seiner äußeren Erscheinung.

Größere persönliche Freiheit genießen die Popgruppen. Sie produzieren Texte und Musik oft selbst oder arbeiten mit Leuten zusammen, mit denen sie eine Zusammenarbeit wünschen. Aber die vielen Prozesse der multimedialen Verwertung von Musik und Gruppen beziehen sie vollständig in das Netz des Zusammenspiels der verschiedenen Kräfte zum Zweck der organisierten Ausbeutung ein. Dabei werden die Gruppen selbst, wie der Schlagerstar, verwertet, nicht nur die Musik.

Im internationalen Maßstab bestimmen die Schallplattenkonzerne in Zusammenarbeit mit Radio Luxemburg und dem internationalen Management die Verwertung, auf nationaler Ebene das nationale Management und die Konzertbüros, das Fernsehen und die Piratensender, die Jugend- und Popzeitschriften und regional das regionale Management, der Rund- und Fernsehfunk mit regionalen Schlager- und Popsendungen, die Presse mit eigens dafür eingerichteten Sparten, die Klubs und Diskotheken und schließlich die Schallplattengroß- und -einzelhändler. Die multimediale Verwertung findet statt: in der Schallplattenindustrie, in Konzerten, in Rundfunk und Fernsehen, in Jugendzeitschriften und Popjournalen, in Tages- und Wochenzeitungen, in Illustrierten, in Poster- und Souvenirproduktionen, in Klubs und Diskotheken.

Die Schlüsselposition für den ganzen Verwertungsbereich und für die Aufbereitung des Marktes hat die Schallplattenindustrie inne. Der Konzentrationsprozeß ist so weit vorangeschritten wie in anderen Bereichen der kapitalistischen Wirtschaft. Preisabsprachen sind Gang und Gäbe. Die Verflechtung von Staat und Wirtschaft ist in hohem Maße entwickelt, die Internationalisierung des Monopolkapitals ebenso. Die Branchenzeitschriften „Die Schallplatte" und „Der Musikmarkt" berichten regelmäßig von Fusionen und Aufkäufen. Eine der letzten Meldungen feiert z. B. die Gründung des „drittgrößten Schallplattenkonzerns der Welt". Siemens und Philips bildeten gemeinsam mit je 50 Prozent Anteilen in Hamburg und Baarn (Holland) die Holding-Gesellschaft Polygram, unter der vier Gruppen arbeiten: Schallplattenindustrie, Musikverlage, Film-und Fernsehproduktionen und Video-Gesellschaften. Polydor-International ist das internationale Hauptquartier für alle Tochter- und Beteiligungsgesellschaften der alten Deutschen Grammophon. Die gesamte Firmengruppe der Polydor-International, die einen Umsatz von über einer halben Milliarde Mark (1971) repräsentiert, kontrolliert 19 Tochtergesellschaften und eine Reihe von Beteiligungsgesellschaften in aller Welt. Die Tochtergesellschaften ihrerseits unterhalten eigene Firmen oder sind an Firmen beteiligt, die sich mit dem Vertrieb spezieller Produkte (Musik-Kassetten) oder mit der Erschließung „unkonventioneller Vertriebswege" befassen.

Die Arbeitsbedingungen der Sänger, Musiker und Gruppen entsprechen weitgehend den Arbeitsbedingungen, unter denen in anderen Bereichen der Großindustrie, die ähnlich stark monopolisiert sind, produziert wird. Entscheidend ist allerdings ein Unterschied: die „Stars" werden selbst zur Ware. Und die Handelsware Popgruppe z. B. muß einen möglichst hohen Tauschwert auf dem Markt erzielen. Dazu werden genau kalkulierte Mittel eingesetzt, die möglichst rentabel angelegt sein müssen. Ein großer Teil der Mittel dient dem Aufbau von Idolen. Jedes Idol muß ein plakatives Image besitzen. Der Schlagerstar verkörpert die bürgerliche Illusion von der Selbstverwirklichung des Individuums kraft seiner persönlichen Tüchtigkeit. Diese Vorstellung müssen auch die Popmusiker glaubhaft repräsentieren, aber in einer anderen Variante und als Gruppe: ,Wir sind wie ihr — jeder kann, wenn er nur will und fleißig, tüchtig und anpassungsfähig ist.' Viele Jugendliche gehen auf den Leim und versuchen es wirklich mit einer eigenen Gruppe. Aber die Hoffnung, nur aufgrund musikalischer Fähigkeiten zum Pophimmel aufsteigen zu können, ist naiv, die Chance gleich null, weil ein riesiger und raffinierter Einsatz von Geld die Voraussetzung dafür ist, daß auf dem Markt ein Tauschwert erzielt wird. Die Notwendigkeit, die Popmusiker als Gruppe zur Handelsware zu machen, ist aber nicht wider- , spruchsfrei: sie widerspricht der individualistischen Persönlichkeitsideologie. Zum Ausgleich werden deshalb die abstrakten Vorstellungen der neuen „psychedelischen" Kleinbürger bemüht: Die Gruppe ist die lebendige Aufhebung der gesellschaftlichen Widersprüche, sie hat zur harmonischen neuen Gemeinschaft gefunden. „Die Individualität, die den ändern achtet" (Popmanager Marek Lieberberg) hat die „totale Freiheit" (Lieberberg) ermöglicht, die Gruppe wird Symbol der Subkulturstrategie, die abseits der Gesellschaft ihre eigene heile bürgerliche Welt bauen will. Aber Schlagerstars und Popgruppen müssen sich auch voneinander unterscheiden, der Markt soll groß sein und vieles bieten. Also muß die „Imagepflege" besondere Merkmale herausarbeiten. Die Musik ist „hart" oder „weich", „heiß" oder „cool", „wütend" oder „abgeklärt" und „gelöst", „zieht ab", „geht los", „bricht aus", „beruhigt", die Musik ist „unorthodox", „voll intensiver Leidenschaft", „barock", „skurril", die Stimme ist „rauh" und „müde" oder „kreischend", „kristallen", das „feeling" ist „schwarz", die Stimmführung „modern" — und diesen und vielen anderen Kategorien müssen die Schlagerstars und Gruppen entsprechen, in ihrer äußeren Erscheinung, in ihrem Auftreten, ihrem Verhalten, ihrer Lebensweise, in ihren Äußerungen — denn all das ist Material für ihr Image, das entscheidend ihre Stellung auf dem Markt bestimmt.

Dabei werden mit Vorsicht auch Differenzierungen zwischen den einzelnen Mitgliedern der Popgruppen vorgenommen. Das ist deshalb notwendig, weil die personelle Zusammensetzung häufig wechseln muß. Und dafür gibt es drei Gründe: Erstens gelingt es sehr selten, eine Gruppe so aufzubauen, daß ihr „Sound" über einen längeren Zeitraum seinen Marktwert behält. Zweitens engt die Markenprägung die Musiker so ein, daß der Einfallsreichtum über kurz oder etwas länger erschöpft ist und alte Erfolge bis zum Geht-nicht-mehr imitiert werden. Wenn es nicht mehr geht, wird die Zusammensetzung geändert oder die Gruppe wird aufgelöst. Das individuelle Image des einzelnen Musikers muß so stark sein, daß die Fans der Behauptung Glauben schenken, der neue Bassist aus der ehemaligen Gruppe X verliehe seiner Lieblingsgruppe Y völlig neue unerhörte Impulse.

Drittens stellen die Fachleute der Konzerne und Managements bisweilen ein Rechenexempel an. Zuviel verwertbares Material in einer Gruppe ist unrentabel. Musiker werden herausgenommen und schwächeren Gruppen zugeordnet. Oder sie wandern eine Zeitlang nur für Schallplattenaufnahmen herum. Gelegentliche Soloplatten heben dabei wesentlich den Tauschwert des Musikers. Das Austauschsystem ist weitaus rentabler als der Aufbau neuer Gruppen, der hohe Investitionen erfordert und mit großem Risiko verbunden ist, besonders weil viele Musiker neuer Gruppen nur wenig musikalische Kenntnisse und technische Fertigkeiten besitzen, die sie sich gewöhnlich autodidaktisch angeeignet haben. Dennoch werden laufend Amateurgruppen zu Schallplattenproduktionen überredet, weil sie unter Umständen irgendwann einmal zu einer Konkurrenz für die Gruppen werden könnten, die man schon eingekauft hat. Man sagt ihnen, eine qualitative Weiterentwicklung sei nur mit den technischen Möglichkeiten des Studios zu verwirklichen. Den neuen Gruppen fehlt jedoch vor allem die hochgradige Perfektion, die bei der Studioarbeit erforderlich ist und nur durch langjährige Arbeit in Studios erworben werden kann. Aber da wissen die Allgewaltigen der Konzerne Rat: Sie mieten sich erfahrene Berufsmusiker, die die Playbacks herstellen. Die Gruppen singen dann nur auf die Musik und legen eventuell noch Zusatz-Klangeffekte auf das Vorprodukt. Dieses Verfahren ist auch bei hochbezahlten Stars üblich geworden, die inzwischen längst selbst Berufsmusiker sind. Schon vor vier Jahren hat eine englische Erfolgsgruppe, die „Love Affair", im britischen Fernsehen berichtet, daß die Musik ihres Single-Hits „Everlasting love" von Studiomusikern gespielt wurde. Die Reaktion kam in zwei gegenläufigen Wellen: Bei den Fans gab es zuerst empörtes Geschrei, dann rückte der Titel aber auf den ersten Platz der englischen Hitparade und hielt ihn für Wochen. Die Beatles und viele andere Gruppen haben mit Studiomusikern gearbeitet. Das lohnt sich für die Herstellerkonzerne, auch wenn die Gruppen selbst in der Lage sind, die Musik zu spielen, weil die Studiomusiker sie perfekter und schneller produzieren. Die Studioarbeit ist sehr teuer. Gewöhnlich werden die Studios für Aufnahmen, Misch- und Schneidearbeiten stunden- und tageweise gemietet. Die Aufnahmestunde kostet zwischen 100 und 200 Mark. Die Studiomusiker kosten zwischen 25 und 60 Mark die Stunde oder werden titelweise bezahlt und bekommen pro eingespieltem Titel zwischen 40 und 80 Mark. Außerdem gibt es unter ihnen Spezialisten, die jeden neuen Sound, jeden neuen technischen oder musikalischen Gag, der irgendwo auf der Welt produziert worden ist, in kürzester Zeit haargenauso anbieten. Der Einsatz von Studiomusikern ist besonders am bundesdeutschen Pophimmel geboten. Viele Produzenten haben sich jahrelang geweigert, mit westdeutschen Gruppen aufzunehmen, aus Furcht, die Perfektion der englischen oder amerikanischen Platten nicht zu erreichen. Aber inzwischen haben die Konzerne eine Marktlücke entdeckt, in die die bundesdeutschen Poproduzenten hineinstoßen. Zur Perfektionierung der Gruppen haben die Poproduzenten noch einen anderen Weg gefunden, der auch international längst üblich ist. Die auf Popmusik spezialisierten Marken haben Verträge mit Aufnahmestudios, die ihren Sound realisieren. Dazu gehören eine besondere technische Ausrüstung und ein Fachmann, der aufgrund seiner Aufnahmeerfahrung jede gewünschte Masche verwirklicht. Dazu gehört ein Arrangeur, der die Gruppen musikalisch auf den Sound bringt. Er orientiert sich an den neuesten Produktionen auf der ganzen Welt. Alles in allem degradieren die ständigen Dressurakte für den Markt die Popmusiker genauso zu nützlichen Idioten wie die Schlagersänger. Baacke schreibt in „Beat — die sprachlose Opposition": „Die Lords begannen als Imitation und blieben es. Am 6. September 1964 gewannen sie im Hamburger Star-Club, in dem einst die Beatles aufgetreten waren, den ersten Preis eines Beat-Wettbewerbes: ,Wer spielt so wie die Beatles?'. Daraufhin bekamen sie Geld, Management und einen Schallplattenvertrag . . . Die Gruppe wurde planmäßig ,aufgebaut': die Lords mußten zunächst ein Repertoire haben (sie übten 300 Nummern ein), gewannen Praxis im Frankfurter Club 52, wo sie jede Nacht acht Stunden spielen mußten. Auf einer Großveranstaltung in Bremen bestanden sie dann den Vortest. Es folgte eine sechswöchige Bühnentournee im Februar 1965 durch die Bundesrepublik; andere Fahrten brachten sie in verschiedene Länder ... Sie verdienten nun zwischen 5.000 und 10.000 Mark im Monat; die Plattenauflage stieg bis auf 200.000 Stück."

Michael Lydon nennt in seinem Aufsatz „Rock for sale" ein anderes Beispiel: „Die Doors sind ein Musterbeispiel... In endlosen Proben und Auftritten in den Rock-Clubs . . . entwickelten sie einen furchterregenden, sehr persönlichen und stringenten Sound ... Es war guter Rock, und mit dem Spitzenschlager ,Light my fire' war es im Juni 1967 auch erfolgreicher Rock geworden . . . Aber der Hit ,Light my fire' war eine kastrierte Version der Originalnummer für die LP, und nach dieser Verstümmelung der Musik zugunsten des unmittelbaren Verkaufserfolges sind die Doors auch musikalisch gestorben. Spätere Alben waren blasse Imitationen des ersten; in verzweifelten Versuchen, den Impuls ihrer frühen Tage wiederzugewinnen, spielten sie immer lauter . . ." Und zur ökonomischen Situation der Popstars stellt Lydon fest: „In Wirklichkeit sind nur ganz wenige Stars echte Großverdiener. Für alle anderen ist die Pop- oder Rockmusik nichts als ein schlecht bezahlter, unsicherer, harter Job unter vielen . . . Der Musiker erhält vielleicht eine Beteiligung von 2,5 Prozent am Plattenumsatz, aber die Firma zieht ihm oft hohe Beträge für das Studio, den Vertrieb und die Werbung ab. Es ist nicht ungewöhnlich, daß jemand, der einen Hit gemacht hat, am Schluß trotzdem bei der Plattenfirma in der Kreide steht." Aber nicht nur die Popmusiker werden ausgebeutet, sondern auch Komponisten und Arrangeure. Sie erhalten gewöhnlich l Prozent Beteiligung am Plattenumsatz, und auch sie werden zu nützlichen Idioten gemacht, auch wenn sie nicht sich selbst, sondern nur ihre Arbeit verkaufen. Die Popmusikproduktion ist eine industrielle Massenproduktion. Wie die Gruppen müssen Komponisten und Arrangeure schnell und sicher schreiben. Dazu bieten sich ihnen musikalische Muster an, die als Maschen Erfolg hatten. Kombinationen zwischen verschiedenen Mustern müssen einen neuen Hit ergeben. Der Griff in die Trick-Kiste muß die Arbeit an der Musik ersetzen. Unter diesen Arbeitsbedingungen entsteht meist sehr schlechte Musik, d. h. Musik, die die Hörgewohnheiten der Jugendlichen auf ihre Muster reduziert. Zu anderer Musik haben diese Jugendlichen deshalb keinen Zugang mehr. Hier findet eine Erziehung zum musikalischen Analphabetentum statt: Das ist ein Bildungsnotstand für die Hörer, aber auch für die Musiker.

Die imperialistische Massenkultur verdummt und manipuliert. Je enger der Horizont der Menschen ist, desto leichter wird es, sie zu desorientieren. Jede Kunst ist aber zuerst Volkskunst. Die Kulturindustrie stiehlt diese Kunst dem Volk, wo sie kann, um sie dann in der veränderten Form wieder als Ware feilzubieten, die ihren Bedürfnissen entspricht, aber nicht mehr den Bedürfnissen des Volkes. Die Industrie hat ein zentrales Bedürfnis: die Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft, ohne die sie nicht existieren kann. Im gegenwärtigen Stadium der Klassenauseinandersetzungen setzt sie alle Anstrengungen daran, die Arbeiterklasse und alle Lohnabhängigen in diese Klassengesellschaft zu integrieren. Die amerikanische Volksmusik, die eine Musik der Arbeiterklasse ist, wird ais Popmusik in veränderter Form serviert.

Nach dem 1. Weltkrieg, als die internationalen Kulturmonopole die Schallplatte und das Radio entwickelten, besaßen sie damit die technischen Voraussetzungen, den Massen ihre Ausdrucksmittel stehlen und sie — verstümmelt und verflacht, zum Integrationsinstrument verändert — auf einem musikalischen Supermarkt wieder anbieten zu können: Die Geburtsstunde der Popmusik war gekommen; auch wenn der Begriff selbst erst später von der Industrie als Markenzeichen für alles, was sich verkauft, erfunden wurde. Zur Popmusik wurde vieles verrührt: Jazz, Spiritual und Blues und manche anderen Elemente aus dem volksmusikalischen Reichtum vieler Länder und der klassischen europäischen Musik.

Aber nicht nur die Musik mußte im Strickmusterverfahren von Gruppen, Komponisten und Arrangeuren, die seriell und rentabel für die Industrie produzieren mußten, standardisiert und eingeebnet werden, sondern genauso erging es den Texten. Die in den Spirituals besungene Erlösung im Jenseits wurde von den Sklaven als Formel für die Revolte verstanden, die Geschichten des Alten Testaments waren Vorlagen, um Rachewünsche auszudrücken: der alttestamentarische Gott war der Gott der Rache. Die Bluestexte besaßen einen Realismus, der für die Ware Schlager- und Popmusik absolut nicht marktgerecht ist: Selten fehlte der Bezug zur Wurzel allen Übels, zu den ökonomischen Verhältnissen. Das zentrale Thema des Blues war die Liebe, sie ist das unerschöpfliche Sujet der Schlager- und Popmusik geblieben. Aber an die Stelle des Widerspruchs zwischen Liebeswunsch und -Wirklichkeit, dessen Konsequenzen in vielen Bluestexten beschrieben wurden und der nur eine besondere Form des Grundwiderspruchs im Kapitalismus darstellt, trat im deutschen Schlager ein Abstraktum, das die ökonomische Abhängigkeit der Frau vom Mann als Schicksal deklariert, die Liebe als Trost für alles, was uns tagtäglich gestohlen wird, oder als höheren moralischen Wert, als Religionsersatz. In der Popmusik ist die Liebe zur Prostitution einer „Sex machine" (James Brown) geworden, oder die „freie Liebe" wurde zum Ersatz für die Freiheit von Ausbeutung, Entfremdung und Entmündigung. Aus der Beschreibung der Wirklichkeit, der Kritik an ihr und der Aufforderung, sie zu verändern, wurden im Schlager- und Poptext Klischees der Wirklichkeit, Formeln und Riten der Anpassung: „Opium fürs Volk", — wir sollen uns mit dem „Schicksal" abfinden, „das Spiel spielen" (aus der dritten Zeile von „All you need is love", The Beatles).

Schlagerstars, Popgruppen, Komponisten, Arrangeure, Texter und Studiomusiker haben das Spiel schon viel zu lange mitgespielt, viele von ihnen kommen zur Einsicht in ihre Lage, einige versuchen, Konsequenzen daraus zu ziehen. Junge Gruppen wie „Ton, Steine, Scherben" und „Hotzenplotz" haben selbst ihre Langspielplatten hergegeben, deren Preis weit unter den üblichen LP-Preisen liegt. Schon vor über 10 Jahren haben engagierte Sänger und Gruppen in der BRD begonnen, sich mit dem Verlag „plane", der jetzt in Dortmund seinen Sitz hat, ein Sprachrohr zu schaffen. Der Verlag, in dem die unmittelbaren Produzenten selbst bestimmen, hat auf dem Gebiet der politischen Schallplatte inzwischen eine „marktbeherrschende Stellung" in der BRD. (Übrigens liegen die Prozent-Anteile bei „pläne" weit über dem Doppelten dessen, was die Konzerne zu zahlen bereit sind.)

Aber auch innerhalb der Schallplattenmonopole haben der Politsänger Franz Josef Degenhardt und die Gruppe „Floh de Cologne" sich Positionen erkämpfen können, die ihnen besondere Vertragsbedingungen ermöglicht haben: sie produzieren Text und Musik ohne Zensur, die Selbstbestimmung ist vertraglich fixiert. Aber es geht nicht um einzelne, und es geht nicht nur um Sänger oder Gruppen, die ihre Musik mit konkreten politischen Aussagen verbinden. Alle Sänger, Gruppen, Musiker, Komponisten, Arrangeure und Texter haben ein Recht darauf zu bestimmen, was sie produzieren, wie sie es produzieren, wie und wie teuer ihre Arbeiten verkauft werden, wie für sie geworben wird, was über sie und ihre Arbeiten in die Welt gesetzt wird, wie ihre Arbeit vergütet wird und wem sie zugute kommt. Ihre Situation ist in vielem der von Schriftstellern und Journalisten, im Ganzen der der Arbeiter in den Großbetrieben vergleichbar. Die Arbeiter haben gelernt, daß sie um jeden sozialen Fortschritt und um jeden Groschen kämpfen müssen, und zwar gemeinsam, Schriftsteller und Journalisten lernen es, die Musikschaffenden müssen es auch tun.

Gegen die Ausbeutung und gegen die Dressurakte der Konzerne und ihrer Dompteure können sie sich nur in organisiertem Kampf zur Wehr setzen. Ihre Organisation muß möglichst breit sein, um von vielen Kräften gemeinsam getragen werden zu können, die durchaus in religiösen, weltanschaulichen und politischen Fragen unterschiedlicher Meinung sein können. Eine solche Organisationsform stellt die Konzeption des DGB mit seinen Einzelgewerkschaften dar. Besonders von Seiten der Schriftsteller ist die Diskussion über die Bildung einer Mediengewerkschaft schon weit vorangetrieben worden. Dieses Konzept könnte auch den Musikschaffenden Rückhalt in ihrem Kampf bieten: Schutz vor Kündigungen, Rechtshilfe, tarifvertragliche Vereinbarungen, Absicherung sozialer Leistungen und vieles mehr. Wie in den Industriebetrieben wäre ein erstes großes Etappenziel die Mitbestimmung. Eine entscheidende Aufgabe der Mediengewerkschaft müßte in der Herstellung einer demokratischen Kontrolle über die Medien bestehen. Die vielzitierte „Freiheit der Kunst", die nicht nur die Musikschaffenden längst als zynische Lüge begreifen müssen, könnte durch den gemeinsamen Kampf Stück für Stück ein wenig mehr Wirklichkeit werden. Dazu aber muß die Arbeit der Künstler eine Bedingung erfüllen: sie muß den Bedürfnissen entsprechen, sie muß parteilich sein. Auch das müssen die Musikschaffenden lernen. Denn allein, isoliert vom Kampf aller fortschrittlichen Kräfte um die Zurückdrängung der Macht der Monopole und um die Durchsetzung demokratischer Rechte in der ganzen Gesellschaft, kann ihr Kampf nicht viel Erfolg haben.

Aber Musiker und Texter haben, wie Schriftsteller und Journalisten, die Möglichkeit, die verschiedenen Versuche und Ansätze fortschrittlicher Gruppen in Betrieben, Schulen, Kindergärten, Universitäten und im kommunalen Bereich (Bürgerinitiativen) mit ihrer Arbeit zu unterstützen. Für die Popmusikgruppen, von denen ja bereits viele begonnen haben, deutsche Texte mit sozialen und politischen Themen zu singen, heißt das, die proletarischen Elemente, die ihrer Musik zugrundeliegen, nämlich die Elemente aus den Kämpfen der Sklaven und der amerikanischen Arbeiterklasse, die Elemente von Blues und Jazz, wieder so einzusetzen, mit musikalischen Formen der Arbeiterklasse des eigenen Landes ' und vieler Länder so zu verbinden und weiterzuentwickeln, daß die Absicht von Text und Musik wirksam wird. Die Lieder müssen helfen, die Wirklichkeit zu bewältigen, also: sie zu verändern. Deshalb müssen die Texte frei von opportunistischen kleinbürgerlichen Mystifizierungen sein und jedem Hörer verständlich. Die Popmusiker schaden ihrem und dem Kampf aller fortschrittlichen Kräfte, wenn sie sich weiter als Idole kleinbürgerlicher Gegenkultur-Illusionen verkaufen. Ihr „Image" muß das von Kampfgenossen aller fortschrittlichen Kräfte sein.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien in der Zeitschrift KÜRBISKERN Nr. 4/72, S.713ff.

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