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Archiv Rock und Revolte
Texte

 
Die Gammler
von Walter Hollstein

Der Abscheu vor der entmenschten Zivilisation, den Allen Ginsberg in seinem Poem »Howl« formulierte, und das Gegenbild vom einfachen, brüderlichen, ekstatischen und neuen Dasein der »beat generation«, wie es Kerouac in seinen Romanen »On the Road« und »The Dharma Bums« beschrieb, prägten die Protestexistenz, die die Erben der Beats Ende der fünfziger Jahre zu leben begannen. Beatniks, Hipsters, Capelloni oder Gammler erklärten zu ihrer Kultur und Weltanschauung, was Ginsberg, Kerouac, Ferlinghetti, Corso, Watts, Snyder, Lenore Kandel oder Kaufman literarisch gefaßt und tatsächlich erlebt hatten.

In den sechziger Jahren mußte auch in Europa jedes Land einen Namen für jene Jugendlichen finden, die sich der Konformität des Bestehenden bewußt entzogen und ihr Dasein ungebunden führen wollten. Denn Gammler, wie man die neuen Protestanten im deutschsprachigen Raum zu nennen pflegte, gab es seit 1964 überall; sie gehörten zum Bild der europäischen Metropolen und konnten als alltägliche Erscheinung selbst von jenen nicht mehr übersehen werden, die sie nur zu gerne übersehen hätten.

Von San Francisco und New York waren sie nach London gekommen, von London gingen sie nach Amsterdam und Stockholm, von Amsterdam und Stockholm zogen sie nach Paris, Rom, Mailand, Berlin, Frankfurt, Wien, Zürich, München, Kopenhagen und Oslo. Allerorten fanden sie Anhänger, die schon seit langem Gleiches lasen und nun auch Gleiches leben wollten. Was Rimbaud 1870 in seinem Gedicht »La Boheme« als Einzelerscheinung beschrieben hatte, offenbarte sich 1965 als Massenphänomen. Nicht einmal mehr die Sprecher der Bewegung wußten die Menge der gammelnden Brüder und Schwestern zu schätzen. Im Frühjahr 1967, als der Höhepunkt der Bewegung bereits überschritten war, sollen es noch 1200 in der Schweiz, 2500 in Österreich, 3000 in Belgien, 6000 in Westdeutschland, 7000 in Italien, 18000 in England (mit den ersten Hippies), 20000 in Holland (mit Provos), 26 ooo in Frankreich und 30000 in den skandinavischen Staaten gewesen sein.

Die Lexika erklärten derweil nichts und ignorierten das Phänomen selbst als Begriff. In der sozialen Wirklichkeit indessen konnte man die Gammler nicht mehr ignorieren. Ohne formuliert zu werden, erschienen die Ziele der neuen Bewegung für jedermann erklärt: Die Gammler waren in Haltung und Kleidung lebendiger Protest. Ungepflegt und teilweise heruntergekommen, störten sie das bürgerliche Sauberkeitsempfinden entschieden; ihr langes Haar attackierte das Image vom männlichen Mann mit Familie, Haus, Besitz und Erfolg. Was der Gammler war und besaß, zeigte er ungeniert und trug er bei sich, öffentlich stellte er die Leistungsgesellschaft in Frage, indem er sich ob der Sonne freute, las oder musizierte, wenn die Gesellschaft mit Arbeit und Fleiß ihr Sozialprodukt mehrte. Ohne die Autorität unmittelbar zu verhöhnen, verhöhnte der Gammler sie doch, weil er Normen, Regeln und Tabus verachtete. Mit seinem bloßen Dasein verriet er gegenüber Unterdrückern und Unterdrückten die tägliche Unterdrückung.

So merkte das System auf und begann zu reagieren. In Deutschland versprach Bundeskanzler Erhard: »Solange ich regiere, werde ich alles tun, um dieses Unwesen zu zerstören.« Bald regierte der Kanzler nicht mehr, und Gammler gab es noch immer. Münchens Lokalkolumnist Sigi Sommer nannte die Bewegung »schlummernden Müll«, und die CSU-Fraktion der gleichen Stadt forderte die Reduzierung der Gammler. Die Innenminister der deutschen Länder wurden angewiesen, Rapporte zu erstellen, und die Polizei übte sich - vor allem in Berlin - im Prügeln. Die Repression der Behörden gegenüber der gammelnden Zunft fand allenthalben den Beifall des empörten Publikums, das sein moralisches Empfinden verletzt und sein Untertanenbewußtsein bedroht sah. Vielen Bürgern sprach die NPD aus braunem Herzen, als sie »endlich Maßnahmen« verlangte, »um das ganze Problem . . . radikal und im Sinne des gesunden Volksempfindens zu lösen(19)«. In Italien erregten sich die Neo-faschisten ebenso wie die Christdemokraten; die Sympathieerklärungen der »Unita« oder der Schriftstellerin Elsa Morante erwiesen sich als nicht so effektiv wie die Empörung von rechts. So räumte die Polizei Rom zunächst einmal von ausländischen Gammlern. In Paris kürzten rechtsradikale Studenten den Beatniks die Haartracht, und die französische Polizei füllte leere Zellen. Einzig in den skandinavischen Ländern standen Bürger und Ordnungshüter den Gammlern vergleichsweise freundlich gegenüber.

Dabei gab sich das Gammlerdasein völlig undramatisch, was sich bereits in Haltung und Gehabe dokumentierte. Der Gammler trat lässig und ausgesprochen ungezwungen auf. Wie abwesend lehnte er an Häuserwänden oder kauerte er auf Bordsteinen, Parkanlagen und Treppenstufen. Sein Oberkörper zeigte sich nicht aufgerichtet oder militärisch gestrafft. Der Gammler ging nicht, sondern schlenderte. Sein Rücken war stets gebeugt, als ob der Gammler unter einer schweren Last litte. Seine Knie schob er, im Stehen oder beim Schlendern, nach vorn; sein Blick war niemals zielgerichtet, sondern vielmehr verloren, irgendwie erschöpft oder für träumerische Fernen bemessen. Dementsprechend gab sich seine Rebellion wesentlich passiv; er wollte nicht Macht erobern, sondern sich von deren Einfluß befreien. Solches reichte indessen schon, um das System zu beunruhigen. Daß in einer Gesellschaft, die nach der Uniformität aller strebt, sich Jugend zum Anderssein bekannte, forderte heraus. Tatsächlich unterschied sich der Gammler von allem in seiner Lebensauffassung vom Bürger, indem er kein geregeltes Leben führte, keiner Arbeit nachging und die Bedeutung und Wert des Geldes ignorierte. Der Gammler lebte vielmehr für den Augenblick; sein Dasein war punktuell und nicht linear wie jenes des Bürgers. Der Gammler wollte »einfach so leben, wie er wollte«, und nichts von der bürgerlichen Existenz wissen, die vor lauter Zielen und Pflichten allen Sinn verfehlt. So gab der Gammler der Gesellschaft seine Mitgliedskarte zurück, demissionierte und erfand sein Leben jeden Tag neu. »Wir kehren uns ab und treten aus der Gesellschaft aus, wir gehen eine Straße entlang, ohne zu wissen, wohin wir kommen, nur mit der Realität des Asphalts, unserer Schritte, der dösenden Sonne, der konkreten Dinge um uns. Wir ziehen uns zurück und besinnen uns auf uns selber, wir gehen fort, um Distanz zu gewinnen. Wir mißtrauen den Etiketten an den Dingen, den abstrakten Forderungen, Theorien und Dogmen der Gesellschaft.«

Ebensowenig interessierten den Gammler Statussymbole und Lebensstandard; seine Bedürfnisse waren minimal und umfaßten nur das Notwendigste: Schlafsack, Nahrung und das, was er auf dem Körper und im Rucksack trug. Gelegenheitsarbeiten und Straßenmusik oder -maierei halfen finanzieren, was man benötigte. Das Durchschnittseinkommen der Gammler in Paris betrug pro Woche 17 Francs; in Frankfurts Gammlerkreisen lag es bei 23 Mark und in Genf bei 38 Franken. Eine kleine Rücklage war nötig, um von Zöllnern nicht zurückgewiesen und von Polizisten nicht wegen Landstreicherei verhaftet zu werden. Solche Maßnahmen sprachen sich im Milieu rasch herum; man half sich mit Informationen, Hinweisen und Adressen. Reiserouten und Sammelplätze waren international bekannt und wechselten nur selten. Meist dienten die Oster- und Friedensmärsche den Gammlern im Frühjahr als Treffpunkt. Anschließend zogen viele nach Frankreich, wo beispielsweise das »Festival d'Anvers« Gammlerscharen aus allen Ländern anlockte; im Frühsommer hielt man sich in Paris auf und breitete sich vom Quai du Petit-Pont bis Vert-Galant aus. Im Hochsommer bevorzugten die Beatniks Amsterdam, Kopenhagen und Stockholm; im Spätherbst fanden sich die Gammler an der Cote d'Azur ein, und im Herbst sammelten sie sich in München, Marseiile und Mailand, um den großen Zug nach Süditalien, Marokko oder in die Türkei anzutreten, wo man zu überwintern pflegte.

Daß Gammler sich räumlich fixierten, war selten. So bildeten die Gammleruniversitäten in der Pariser Rue de Rennes und das italienische Capelloni-Lager »Nuova Barbonia« an der Peripherie von Mailand deutliche Ausnahmen innerhalb einer nomadenhaften Bewegung. Geschlossene Treffpunkte wie »Chez Popov« in Paris, »Finch's« in London, das »Running Horse« in Brighton, »Nick« in Kopenhagen, die »Dicke Wirtin« in Berlin, der »Gueule de Bois« in Brüssel, der »Grüne Krug« in Zürich oder das »Cafe Weiß« in Frankfurt wurden indessen ebenso kontinuierlich aufgesucht und beibehalten wie die öffentlichen Sammelstätten der Bewegung: der Opernplatz in Frankfurt, die Leopoldstraße in München, der Vorplatz der Berliner Gedächtniskirche, das Niederdorf in Zürich, das Seineufer und das Quartier latin in Paris, Covent Garden in London, die Vestergade in Kopenhagen, die Spanische Treppe und die Via Marguita in Rom oder der Spul in Amsterdam. Daß sich die Gammler in den gleichen Quartieren und an den gleichen Orten einfanden, konnte freilich nicht bedeuten, daß sie eine kohärente Gruppe gebildet hätten. Sie verstanden sich je als Individualisten und lebten dementsprechend. Ihre Reisen unternahmen sie meist nur zu zweit; fünf Gammler waren das Maximum der formierten Kleingruppen. Dort, wo sie sich trafen, lebten sie in lockerer Gemeinschaft und völlig unorganisiert. Sie saßen zusammen, sprachen zusammen, teilten, tauschten oder verschenkten nicht mehr Benötigtes, ohne daß es jedoch zu größeren Gruppenbildungen gekommen wäre. Einzig jene Gammler, die weniger reisten, bildeten in Rom, Berlin oder wie Aguigui und seine Anhänger in Paris kleine Gruppen, um die sich dann während der »Saison« die wandernden Gammler locker als Untergruppen versammelten. Gruppen und temporäre Untergruppen setzten sich international zusammen; Herkunft, Nationalität oder Alter schieden als Kriterien der Gruppenbildung aus. Entscheidend waren einzig die Gleichheit der Lebensweise und die Ähnlichkeit der Lebensanschauung. »>Ausländisches< Gedankengut«, so formulierte Zürichs Hotcha-Sippe, »ist für universell denkende Menschen keine >Übernahme<, sondern ein Bestandteil des eigenen. Die schweizerische Eigenart kann unseretwegen in Butterbergen serviert werden, aber ein Gammler ist ein Gammler. Niemand fragt nach seiner nationalen Eigenart. Wir hoffen, mit unserer Generation dieses traurige Stück Geschichte begraben zu können, in dem die Menschen für die Nationalflagge in den Krieg zogen.« Nach dem früheren Leben wurde in Gammlerkreisen selten gefragt. Man sprach sich allenfalls mit dem Vornamen an, meist jedoch mit einem Übernamen, der sich während der »Reisezeit« gefunden hatte. Von den Gammlern waren n % jünger als 16, 71 % zwischen 16 und 21, 13 % zwischen 22 und 2j und nur 5 % älter als 25; nur 6 % waren verheiratet; n % kamen aus der Oberschicht, 82 % aus den Mittelschichten und 7 % aus den Unterschichten; 53 % der Gammler waren in ihrem offiziellen Leben von einst Schüler gewesen, 16 % Studenten, 19 % Lehrlinge, 4 % Arbeiter und 8 % arbeitslos(20). Jene Mär von den Gammlern als ausnahmslos verkommenen Existenzen bestätigt sich damit nicht. Gammler stammten zumeist aus gutbürgerlichem Hause, hatten eine ordentliche Erziehung genossen und einen längeren Schulbesuch oder eine Lehre hinter sich gebracht. Viele Gammler hatten studiert — oft Kunst, Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft oder Philosophie. Auch die Legende von den Gammlern, die allesamt im bürgerlichen Leben gescheitert sind oder zu dem wurden, was sie waren, weil sie kein Elternhaus besessen hatten, kann weiter nur von denen genährt werden, die sich damit begnügen, Vorurteile zu verbreiten. Freilich gab es auch anderes: Manch ein Gammler war in der Tat in seinem Beruf gescheitert; manch ein Gammler wirkte tatsächlich verkommen; manch ein Gammler war kriminell oder weil er kriminell war, zum Gammler geworden. Mit solchen Einzelfällen kann man jedoch ebensowenig die ganze Bewegung diffamieren wie mit dem berühmten »schwarzen Schaf« eine ganze Familie.

In der Regel ließ sich der Gammler allenfalls kleinere Delikte wie Mundraub oder den Diebstahl von Lebensmitteln in Großgeschäften - niemals bei kleinen Kaufleuten — zuschulden kommen. Der Prozentsatz der Verstöße wider das Bürgerliche Gesetzbuch erhöhte sich indessen, weil die gelegentliche Vorliebe der Gammler für bewußtseinserweiternde Drogen von einer Gesellschaft, die aus den viel gefährlicheren Alkoholika Profit schlägt, als Verbrechen gewertet wurde. Auch die mit fader Lust verbreitete Ansicht, daß Gammler allenthalben wilde Orgien feierten, muß ins Reich der Legenden verwiesen werden. Schon die Widrigkeiten der äußeren Lebensbedingungen verhinderten, daß das Leben des Gammlers zu hemmungslosem Taumel wurde.

Im Gegensatz zur bürgerlichen Jugend fielen in Gammlerkreisen schon äußerlich die unerotische Kleidung und Kumpelhaftigkeit ins Auge. Da die Gammler in ihrem Leben überdies genug Neues und Aufregendes kennenlernten, mußten sie es nicht wie die bürgerliche Jugend in sexuellen Abenteuern suchen.

Wichtiger als die künstliche und obendrein wertlose Unterscheidung zwischen »haltlosen« und »gefestigten« Gammlern ist vielmehr die Differenzierung zwischen Freizeitgammlern, Wochenendgammlern und dezidierten Gammlern. Bei vielen Beatniks erwies sich das Gammeln nur als »Freizeitbeschäftigung«. Nach Feierabend legten sie ihre Berufskleidung ab und ihre Gammlersachen an, wozu auch eine malerische Perücke, die den letzten Beweis für Echtheit liefern sollte, stets gehörte. Wenigstens zwei Tage versuchten die Wochenendgammler jener Welt zu entfliehen, die sie als beengend empfanden. Meist hielt eine unabgeschlossene Schul- oder Berufsausbildung sie davon ab, ganz zum Gammeln überzugehen. Freizeitgammler, Wochenendgammler und dezidierte Gammler einte freilich trotz aller Unterschiede ein gemeinsames Unbehagen: Sie hatten allesamt von einer Welt mehr oder minder genug, die ihre Freiheit beschnitt, ihre Meinungen vorbildete, ihre Zeit mit sinntötender Beschäftigung füllte und ihnen allüberall Fesseln anlegte. Das entscheidende Motiv, welches die Gammler zum Gammeln be-wog, war denn auch der Protest wider eine Welt, mit der man nicht einverstanden war und die man nicht anerkennen wollte: Von den in Genf befragten Gammlern äußerten 5 8 % ihre grundsätzliche Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen, in Frankfurt und München waren es 62 %, in Rom und Mailand 67 %, in Paris und Marseiile 71 %, in Kopenhagen 79 % und in Amsterdam sogar 84 %. Der Psychologe Tobias Brocher befand: »Alle Versprechungen . . . haben sich für diese Jugendlichen als unwahr erwiesen: Es ist kein Friede, und der Wohlstand neigt sich dem Ende zu. Die Antwort der Gammler ist ein Signal für ein Versäumnis. Diese Antwort lautet: Wir wollen ganz bestimmt anders sein, als ihr zu uns gewesen seid (21)

Darum trat der Gammler zunächst und durchaus bestimmt für das Leben ein; er widersetzte sich jener verhängnisvollen Dialektik, die die gewaltigste Entdeckung der Naturwissenschaft in die schrecklichste Bedrohung des Menschen verwandelt hat. Das erklärte seine eifrige Beteiligung an den Manifestationen der Atomwaffen- und Kriegsgegner. In einem Lied französischer Beatniks heißt es:

»Je mendirai ma vie
Sur les routes de France
De Bretagne en Provence
Et je dirai aux gens
Refusez d'obeir
Refusez de la faire
N'allez pas a la guerre
Refusez de partir . . .«

Bewußt negierte der Gammler alle Pflichten und Verantwortlichkeiten, weil er von der bürgerlichen Gesellschaft nichts erwartete und nichts wissen wollte. Er wandte sich provozierend gegen den saturierten Bourgeois, der einzig für sein Wohlergehen lebt und so tut, als sei in der Welt alles aufs beste geregelt. Daß dem nicht so ist, bewies beispielsweise Aguigui in Paris mit seinen »Freunden des Lebens« (»Amis de la Vie«); vielfältig und originell protestierte er gegen die Lethargie und falsche Idylle der Bürger. Vor den »Galeries Lafayette«, einem großen Warenhaus, zerstörte Aguigui zwei Maschinengewehre, um das Augenmerk der Öffentlichkeit auf das Kriegsspielzeug für Kinder zu richten; gegen Kanonen und für Sportplätze demonstrierte er im »Parc des Princes«. Auf den Champs-Elyses störte er mit einer Kuhglocke den Rhythmus der französischen Militärmusik, und mit einer »Operation Diderot« nahm er für den verbotenen Film »La Religieuse« und gegen Spionage-, Kriegs- oder Gewaltfilme Stellung. Als an der französischen Mittelmeerküste ein amerikanisches Kriegsschiff vor Anker ging, mietete Aguigui eine »Flotte« von Pedalos (Tretbooten), umspannte sie mit Transparenten wider den Krieg in Vietnam und fuhr mit seinen Freunden um den US-Kreuzer herum. Später ehrte er Mic MacNamara mit dem Nobelpreis für den Krieg; auch gegen die technokratische Vergewaltigung der Natur, die Luftverpestung und die Wasserverschmutzung protestierten die »Freunde des Lebens«.

In der Tat beklagten die Gammler vor allem den Verlust an Ursprünglichem und den Mangel an Schöpferischem; sie wandten sich entschieden gegen die Entwicklung, die alles Individuelle verdrängte und überall Masse schaffte. Der gammelnde Maler Lima attackierte die »technische Zivilisation, die die Gesellschaft unterdrückt«, und die »Gesellschaft, die, Sklave der Technik geworden, den Menschen unterdrückt(22)«. Solches erklärte auch die Abneigung des Gammlers, sich in die moderne Arbeitswelt zu integrieren. Durchaus nicht faul oder arbeitsscheu und von sinnvoller Tätigkeit sogar begeistert, wehrte er sich aus einem bestimmten Motiv, regelmäßiger Arbeit nachzugehen: »Wenn wir hier faulenzen, dann hat das Gründe. Was wir hier machen, läßt sich einfach erklären: Wir wehren uns dagegen, daß wir von unserer Gesellschaft total verplant werden(23).« Der Gammler kritisierte jenes System von Beaufsichtigung und Unterordnung, das die heutige Arbeitswelt bestimmt und den Arbeitenden zu einem Objekt betrieblicher Planung herabwürdigt. Doch auch mit der Freizeit, wie sie sich präsentierte, waren die jungen Rebellen nicht einverstanden, weil der Mensch in seinen Mußestunden zu einem Sklaven des Konsums und der Reklame geworden sei. Mit der eigenen Weigerung zu konsumieren und dem Willen, nichts zu kaufen, traf der Gammler die Konsumgesellschaft an ihrer empfindlichsten Stelle. Während die Jugend allgemeinhin zu einer der wichtigsten Stützen der Konsumgesellschaft geworden war, rüttelte der Gammler am System von Produktion und Konsumtion.

So brach der Gammler aus dem Gehege aus, in das der zeitgenössische Mensch eingeschlossen ist, weil er ganz einfach nicht wollen wollte, was der Bürger wollen muß. Der Gammler sprengte die Mechanismen der gegenwärtigen Gesellschaft, suchte das Neue und Bessere in der weiten Welt und leugnete jene Werte, die das soziale Leben unserer Tage aufrechterhalten: Arbeit, Autorität, Geld, Leistung, Konsum, Fleiß und Geschäftigkeit. Dem bürgerlichen Egoismus des Besitzstrebens stellte der Gammler die klassische Forderung der Französischen Revolution nach Gleichheit und Brüderlichkeit entgegen.

Das klingt revolutionär. Doch planten die Gammler in Wirklichkeit nicht, die Welt zu verändern. Selbst Aguigui, der zu den politisch bewußtesten Beatniks zählte, entschärfte seinen Protest mit der Aufforderung: »Faut rigoler, mais foutez-nous la paix!« Die Ungefährlichkeit der gammelnden Rebellen erkannte auch die Pariser Polizei in ihrem Gammler-Rapport und definierte die Bewegung als »eine seltsame Gemeinschaft, welcher der Anarchismus mehr Attitüde als bewußtes Engagement ist«. Was den Ordnungshütern zunächst die Ordnung zu gefährden schien, wurde nun als »harmloses und folkloristisches Phänomen« abgetan. War solche Klassifizierung ebenso vereinfachend wie beleidigend, so erwies sich doch, daß die Welt sich bald beruhigt, wenn es ihr nicht an die gesellschaftlichen Wurzeln geht. Temporär sah sich das System in Panik versetzt, weil sein Selbstbild beschmutzt und seine Geschlossenheit von den Gammlern durchbrochen worden war. Als sich der Protest der Bewegung weithin in Solipsismus erschöpfte und also das System an seiner Basis unversehrt blieb, besänftigte man sich bald. Wie einst der Beatnik in Amerika, so wurde auch der Gammler schließlich zur belächelten Figur in Film, Fernsehen und Illustrierten; Kultur- und Konsumindustrie verpaßten ihm eine bärtige und saloppe Protestuniform, womit seine Rebellion zum system-konformen Ausbruchsverhalten neutralisiert worden war. Die Gammler taten ein übriges: Sie verließen die Bewegung zuhauf, womit sich ihre Rebellion als Protest auf Zeit erwies. Einmal mehr hatte das System also zurückgeholt, was ihm hatte entfliehen wollen.

Anmerkungen

19) Vgl. Gammler in Deutschland, Der Spiegel Nr. 39, 1966.
20) Zahlen nach Untersuchungen in Paris, Kopenhagen, Frankfurt/Main, Genf und Zürich; auf die tendenziösen Enqueten der Pariser und Römer Polizei geht der Verfasser nicht ein.
21) Zit. n. Der Spiegel Nr. 39, 1966.
22) Zit. n. Jean Monod, Les barjots, Paris 1968 p. 275.
23) Zit. n. Margret Kosel, Gammler, Beatniks, Provos, Frankfurt 1967 p. 10.

  • aus: Hollstein, Walter, Der Untergrund, Berlin und Neuwied, 2. Auflage, 1970, S. 37-46

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