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Archiv Rock und Revolte
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Che starb im Jugendheim

von Rosemarie Köhler

Freitag, 3. Oktober 1969, 19.25 Uhr. Ein trüber, nebliger Abend. In der Edinburger Straße, dicht am Schillerpark, begegnen mir nur wenige Menschen. Ich suche die Hausnummer 55. Ein Neubau, dreistöckig, die obere Etage hell erleuchtet. Im Flur riecht es nach kalten Essensdünsten. Ich steige die Treppe empor, oben sind Stimmen zu hören. Durch eine Glastür gelange ich in einen Vorraum. Eine Sitzecke, kleiner Tisch, darauf Bücher über Südamerika und ein Stapel bedruckter Zettel. Ich lese: Der tote Che lebt. Südamerika im Umbruch. Eine Gesprächsreihe Über die revolutionären Bewegungen in Südamerika. Referent Lutz von Werder. 3. Oktober, 10. Oktober, 17. Oktober. Jugendclub Edinburger Straße. 19.50 Uhr.

19.50 Uhr. Ich suche vergeblich nach einem Hinweis auf den Ort der Veranstaltung. Durch einen Gang kann ich in einen erleuchteten Raum sehen. Ein Herr erblickt mich, erhebt sich von einem Stuhl und kommt mir entgegen. Ich vermute, daß es der Heimwart ist. Frage: „Bitte sagen Sie mir, wo diese Veranstaltung stattfindet!" Ich zeige auf den Zettel. Heimwart: „3a, wahrscheinlich wird sie ausfallen. Wissen Sie, die Beteiligung ist ein bißchen knapp. Kommen Sie doch bitte mit. Sie können ja hier warten." Er begleitet mich in den Raum, aus dem er mir zuvor entgegengekommen war. Der Heimwart bittet mich, Platz zu nehmen. Er geht zum Fernseher und schaltet ihn ab. Ein Jugendlicher, der bis dahin offenbar das Fernsehprogramm verfolgt hat, verläßt gemeinsam mit dem Heimwart den Raum.

19.55 Uhr. Ich warte und sehe mir den Raum genauer an. Hellblau gestrichene Wände, Decke beige getönt. Eine Längswand des Raumes besteht aus Fenstern. Die Vorhänge sind nicht zugezogen. Graue Stahlrohrstühle, dunkelgraue Polster, die quadratischen Tische haben Kunststoffplatten mit Teakholzdekor. Zwei Leuchtstofflampen an der Decke erhellen den Raum nur mäßig. Auf dem Fernseher dient eine umgekippte Schreibtischlampe als Fernsehleuchte. Ich warte.

19.40 Uhr. Ein Jugendlicher betritt den Raum, blickt sich um und nickt mir zu. Er nimmt ein Buch aus einem Regal und verläßt wieder den Raum. Ich höre Geräusche im Flur. Schritte kommen näher. Eine Wasserspülung läuft. Schritte entfernen sich.

Ich studiere den Wandschmuck. Eine Europa- und eine Deutschlandkarte, Gea-Verkehrskarte Deutschland 1:1000000. Ich lese: Ostpreußen, zur Zeit unter polnischer Verwaltung.

19.45 Uhr. Der Heimwart betritt den Raum und setzt sich zu mir an den Tisch. „Tja, das ist ja Pech! Als wir im Frühjahr diese Gesprächsreihe geplant hatten, war Interesse vorhanden. So bei den 16- bis 20jährigen. (Bei dieser Altersangabe mustert er mich aufmerksam.) Wir haben 400 Handzettel verteilt und noch 70 Extraeinladungen. Es war ja auch im Roten Faden veröffentlicht. Wie haben Sie es denn erfahren?" Ich: „Aus dem Blickpunkt-tip." Heimwart: „Ach so, im Blickpunkt." Längere Gesprächspause. Heimwart: „Ja, wenn Sie Interesse haben und der Herr Werder kommt noch — ich weiß gar nicht, wo er bleibt —, dann können Sie ja warten. Bezahlen müssen wir den Referenten ja sowieso." Ich: „Ja." Heimwart: „Wir haben ja auch mit dem Referenten gemeinsam die Literatur herausgesucht. Na, Sie können ja noch warten." Geht ab.

19.50 Uhr. Schritte auf dem Flur. Besucher? Gehen ab in Richtung Toilette. Heimwart hantiert draußen mit Flaschenkästen. Gesprächsfetzen dringen herein. „Wirst dich ja nicht tot dran schleppen an dem leeren Kasten." Gelächter. Wortfetzen: „Kannste Robert mal zehn Pfennig pumpen?" —

Ich mustere den Raum. 40 cm unter der Decke hängt ein Kalender. Vorderansicht: ein Computer. Ich lese: Herausgegeben vom Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen, Referat für Öffentlichkeitsarbeit, 5300 Bonn, Adenauerallee 81.

Ich zähle die Stühle: 18, davon 17 leer. Gespräche auf dem Flur. „Na, du Pflaume!" Gelächter. Ich will noch bis 20 Uhr warten.

19.55 Uhr. Heimwart tritt in die geöffnete Tür und blickt zu mir herüber. „Ich weiß gar nicht, wo der Referent bleibt."

20.00 Uhr. Ich stehe auf und gehe auf den Flur. Heimwart kommt mir entgegen. Er lächelt verlegen und sagt: „Ja, das tut mir furchtbar leid. Das ist ja ein verkorkstes Ding. Heute kommt nicht mal der Referent." Ich verabschiede mich und gehe die Treppe hinunter. Niemand begegnet mir. Auf der Straße ist kein Mensch zu sehen. Von der nahen Feuerwache startet ein Einsatzwagen mit Blaulicht und Martinshorn. Ein Hund bellt im Schillerpark.

  • Der TIP 61, S. 15 - Beilage zum Blickpunkt Nr. 194 April 1970

 

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