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Archiv Rock und Revolte

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Wie stark sind die Halbstarken?

von Wolf Gnagy

Neulich hörte ich in der Straßenbahn ein Gespräch an. Ein gut aussehender Herr in mittleren Jahren gab seinem Begleiter gegenüber seinem Unmut über die heutige Jugend Ausdruck: „Da waren wir doch in unserer Jugend ganz anders. So etwas wie heute gab es zu unserer Zeit nicht. Wir kannten erstens nicht diese verrückten Tänze, die es heute gibt, zweitens durften wir nicht rauchen; wenn mein Vater uns Jungen dabei erwischt hätte, hätte er uns den Glimmstengel aus dem Mund geschlagen. Und drittens ging es sonntags bei uns im Ort immer zur Kirche, darauf hat schon unsere Mutter gehalten." Der andere nickte zustimmend: „Ja, heule ist die Jugend eben anders, ganz anders."

Sind wir heute anders?

Natürlich sind die jungen Menschen von heute anders. Daran ist kein Zweifel. Aber sind sie wirklich ganz anders, wie so gern behauptet wird? Rolf Fröhner hat unter dem Titel „Wie stark sind die Halbstarken?" interessantes Material vorgelegt, aus dem hervorgeht, daß sich die Öffentlichkeit von der Jugend ein ziemlich falsches Bild macht. Das Buch bringt eine Fülle von Zahlen, es sind sehr trockene, aber exakte Zahlen. Sie stammen aus Umfragen, die in den Jahren 1953, 1954 und 1955 jeweils im November vom EMNID-Institut für Meinungsforschung unter jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren im Bundesgebiet und in Westberlin durchgeführt wurden. Diese Zahlen geben ein nüchternes Röntgenbild der heutigen jungen Generation. Der Titel des Buches fragt: „Wie stark sind die Halbstarken?" und meint damit: Wie stark sind die Halbstarken .. . unter der heutigen Jugend vertreten? Antwort: Äußerst gering. Übrigens ist der Titel für das Buch nicht weiter charakteristisch, man hat den Eindruck, daß eine knallige Überschrift für den sonst recht seriösen Inhalt gewählt wurde.

Boogie-Woogie unbeliebt

Man will es zuerst gar nicht glauben, aber es läßt sich statistisch genau belegen: Der beliebteste Tanz ist der Walzer, der unbeliebteste der Boogie-Woogie! Von den zwei Dritteln der Jugendlichen, die angeben, daß sie gern das Tanzbein schwingen, tanzen am liebsten

29 % Walzer
27% Tango
12 % Foxtrott
9 % Langsamer Walzer
5 % Rumba, Samba
5 % Boogie-Woogie, Jitterbug

Wenn trotzdem der Boogie-Woogie als der Tanz der Jugend weithin verstanden wird, so liegt das daran, daß die wenigen Boogie-Woogie-Freunde sehr viel mehr Aufsehen erregen als die vielen Anhänger des Walzers und des Tangos. Daß Boogie und Jitterbug an letzter Stelle stehen, wird gewiß auch damit zusammenhängen, daß sie körperlich recht anstrengend und nicht so ganz einfach zu tanzen sind, zumindest nicht für die breite Masse der Sonntagstänzer. Daß diese Zahlen kein Zufall sind, geht auch aus der umgekehrten Frage hervor, welcher Tanz am wenigsten beliebt ist, worauf 34 °/c der Berliner Jugendlichen Boogie und Jitterbug, 13 % Walzer und 6 % Rheinländer, Polka, Schieber und Marsch nennen.

Tägliche Raucher selten

Für besorgte Eltern und Erzieher mag es auch einigermaßen beruhigend sein zu hören, daß über die Hälfte der Jugendlichen gar nicht raucht. Wirklich regelmäßige Raucher gibt es nicht einmal ein Viertel, die anderen rauchen ab und zu einmal.

53 % rauchen gar nicht
24 % rauchen ab und zu
23 % rauchen täglich

Die regelmäßigen Raucher sind fast alle aus der Altersklasse der 18- bis 24jährigen.

Kirchgang recht häufig

Wirklich überraschend hoch ist die Zahl derer, die in den letzten 14 Tagen einen Gottesdienst besucht hatten: über die Hälfte waren zur Kirche! Etwa ein Viertel hat in den letzten drei bis acht Wochen an einem Gottesdienst teilgenommen. Über drei Viertel der jungen Generation geht also alle zwei Monate mindestens einmal zur Kirche. Nur ein Zehntel war länger als ein Jahr gar nicht zur Kirche. Es waren im Gottesdienst

52 % in den letzten 14 Tagen
26 % in den letzten 3 bis 26 Wochen
84 % im letzten Jahr
10% länger als ein Jahr nicht

Die katholischen Jugendlichen gehen — was allgemein bekannt ist — in einem weit stärkeren Maße als die evangelischen zur Kirche. Dennoch waren auch 70 % der evangelischen Jugendlichen im letzten halben Jahr zum Gottesdienst. In den Großstädten ist der Gottesdienstbesuch etwas schwächer als auf dem Lande. Natürlich besagen solche Zahlen wenig über die Tiefe des religiösen Glaubens der Befragten. Aber eines geht aus den Antworten hervor: Was auch immer die Gründe für einen Kirchgang bei der Jugend sein mögen, sie geht öfter in die Kirche als die Erwachsenen. Auch fällt bei ihnen der „Kirchgang aus Tradition" weg, der bei den Erwachsenen eher eine Rolle spielt. Man möchte meinen, daß diese Zahlen übertrieben sind, aber wiederum ist das kaum möglich, denn wer gibt schon mit seinem Gottesdienstbesuch an! Doch wohl niemand, eher verschweigt manch einer vor Kameraden seinen Kirchgang. Der Grund, weshalb die Jugend von manchen Seiten für religiös uninteressiert gehalten wird, ist darin zu suchen, daß die wirklich Uninteressierten ihre Meinung mit Lautstärke ausposaunen, während der ungleich größere Teil der jungen Menschen von seiner religiösen Einstellung nur nichts hermacht und sie manchmal absichtlich verbirgt.

Ja, die jungen Menschen heute sind anders als früher, aber auch anders . . . als viele meinen!

Quelle:

BLICKPUNKT
Illustrierte Zeitschrift, herausgegeben vom Landesjugendring Berlin
(Nr. 73 / 5-1958 / S.22)

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