zurück 

Archiv Rock und Revolte
Dokumente
 

Spießer mit langen Haaren

Die Primaner gelten bei vielen Erwachsenen als verhaschte Bolschewiken, die auf Kosten der Steuerzahler den Untergang des Abendlandes planen. Doch in Wirklichkeit haben die meisten Oberschüler dieselben Ziele wie ihre Väter. Sternreporter sprachen mit Hamburger Abiturienten.

Für die meisten Primaner ist das Gymnasium ein notwendiges Übel. Sie haben wenig Ideale und sind darauf aus, Geld und Karriere zu machen.

Die Klasse N 12 im St.-Georg-Gymnasium in Hamburg-Horn hat Frühstückspause. Der Primaner Gerhard Bir, 18, schlendert zur Fensterbank. Dort wird Roulett gespielt. Höchsteinsatz fünf Mark. Irgend jemand hat — in Erwartung der Reporter — das Wort »Schuljungenreport« an die Tafel geschrieben, und wenn auch kein triebhafter Primaner eine Lehrerin vergewaltigen will, so entspricht doch die Szene in ihrer Lässigkeit ungefähr dem Klischeebild, das in der Öffentlichkeit von Primas existiert.

Andreas Wendorff macht einen Kopf stand neben dem Pult, damit die Durchblutung für die nächste Stunde stimmt. Man liest sich Selbstgereimtes vor (»Hast du Haschisch in der Blutbahn, kannst du fliegen wie ein Truthahn« oder »Dreimal LSD am Tag, löst den grauen Zahnbelag«). Man trägt die Haare schulterlang. Die Stimmung ist gemütlich. Man betrachtet neidisch die Szene. Ich ging in den frühen Fünfzigern zur Penne, drei Millionen Lichtjahre vor Jimi Hendrix. Mein Lieblingsschauspieler Robert Mitchum wurde damals wegen Besitzes von ein paar Gramm Marihuana ins Gefängnis gesteckt.

Englischunterricht. Die Sprache Mick Jaggers. Ich lernte noch die Sprache Churchills.

..Would you, please, define the difference between smoke, haze and mist?", fragt, ach was, bittet der Englischlehrer einen Schüler. Der mustert, unter einer Bombe von Haar, in träger Abwehr den Frager. In seinem Hinterstübchen denkt er sich wohl, daß es für einen Primaner durchaus substantiellere Fragen gibt als die nach dem Unterschied zwischen Rauch, Dunst und Nebel.

„Rauch wird produziert, wenn ich Marihuana rauche", sagt er mit leichtem Woodstock-Akzent, aber in sonst grammatikalisch tadellosem Englisch.

Nächste Stunde: Physik.

Der Lehrer heischt nicht artig um Antwort, sondern will eine präzise Auskunft. Doch unser Freund mit Woodstock-Akzent stottert.

„Ich habe Sie akustisch nicht ganz mitbekommen", erklärt der Lehrer unnachgiebig.

Doch der junge Mann, der so cool aussieht, als spiele er Rhythmus-Gitarre bei „Ten Years After", weiß keine Antwort und schwitzt plötzlich unter dem gleichen Leistungsdruck wie sein Vorgänger vor zwanzig Jahren.

Die poppige Vision vom Primaner 72 bekommt Risse.

An der Wand des Klassenzimmers hängt der Grund für die Nervosität. Dort klebt ein Zeitungsartikel mit dem Titel „Wenig Platz zwischen Flensburg und Konstanz", ein Report über die Zulassungsbeschränkungen an den überfüllten Hochschulen, über den Numerus clausus. Den kann man nur mit guten Noten in den Kernfächern überspringen.

Und unser junger Freund will Chemie studieren, dafür braucht er auch in Physik gute Zensuren. Ein paar falsche Antworten in diesem Fach können die ganze Zukunft des Schülers ruinieren.

Mein Neid legt sich. Die Rhythmus-Gitarre tut mir plötzlich leid. Der „Ernst des Lebens" schon in der Schule? Zweifellos — Spaße, wie sie in Heinz Rühmanns „Feuerzangenbowle" getrieben wurden, kommen in der N 12 nicht vor.

Das St. Georg-Gymnasium hat einen guten Ruf. Die meisten seiner Lehrer sind jünger als 35 Jahre. Das Verhältnis zu den Schülern wird von beiden Seiten als freundlich bezeichnet. Fälle radikalisierter Schüler sind bisher nur zweimal gerichtsnotorisch geworden. Beide sitzen in Untersuchungshaft wegen einer amateurhaft versuchten Brandstiftung in einem Hamburger Möbelgeschäft.

Das Interesse am Klassenkampf ist erloschen

Die 19 Primaner, überwiegend SPD-Wähler, stammen zum Großteil aus bürgerlichen Verhältnissen in der Hamburger Vorstadt. Ihre Väter sind meist im Kommunaldienst beschäftigt, einige arbeiten als Angestellte in der Wirtschaft. Zwei kommen aus der feinen Innenstadt, davon wählt der eine — Sohn eines Bankdirektors — CDU, der andere bewahrt sein Wahlgeheimnis.

Bürgerliche Elternhäuser, in denen auf Anpassung geachtet wird; eine Schülerverwaltung, in der die politischen Aktivitäten sanft entschlummert sind; Lethargie in den als überflüssig empfundenen Fächern wie Englisch, das die meisten schon können; Streß in den naturwissenschaftlichen Hauptfächern: Das sind die Fakten hinter dem poppigen Bild. Von der Klischee-Vorstellung, daß auf unseren Oberschulen verhaschte Rebellen und Verneiner tun und lassen, was sie wollen, bleibt bei einem näheren Blick wenig übrig.

„Schule ist Scheiße", meint Mathias Grimme, 19. Sein Berufsziel: vergleichende Verhaltensforschung. Er glaubt — wie die Mehrzahl seiner Kameraden — daß er in dieser Schule kaum etwas fürs Leben lernt. „Die meisten von uns wollen hier nur ihr Scheinchen machen", meint er.

Die Schüler hier geben kaum zu der Hoffnung, aber auch nicht zu der Befürchtung Anlaß, daß die heutige Jugend irgend etwas grundlegend anders machen wird als ihre Väter.

Wie sollte sie auch?

Da ist zum Beispiel einer der beiden Klassensprecher: Andreas Kaul, 19 Jahre alt, Vater Bankdirektor. Er entspricht ungefähr dem Bild, das man sich von einem Jungen aus einer soge-nannten „guten" Hamburger Familie macht. Er hat mehrere Weltreisen hinter sich, war Hamburger Landessieger im STERN-Wettbewerb „Jugend forscht" und würde gern Biologie und Chemie studieren. Doch falls er den Sprung auf die Universität wegen des Numerus clausus nicht schafft, kann er sich durchaus vorstellen, eines Tages wie sein Vater in die Bank zu gehen und Geld zu verdienen.

Er ist — wie er sagt — „nicht reaktionär", steht aber „reichlich rechts". Die Wiedervereinigung hält er für Blödsinn, weil die DDR sie sowieso nicht will, und er glaubt, daß sich Sozialismus zwar besser anhört als Kapitalismus, aber ansonsten unpraktizierbar ist.

Andreas Kaul gehört immerhin noch mit fünf anderen Schülern zu dem aktiven Kern der Klasse. Immer wieder stellt er Fragen an die Lehrer, um aus dem Unterrichtsstoff genau die Themen herauszuklauben, die ihn später in Beruf und Studium vorwärtsbringen können.

Der andere Klassensprecher ist Klaus-Peter Krüger, 17. Sozial gesehen und mit Andreas verglichen sitzl_Klaus-Peter am kürzeren Ende der Wurst. Sein Vater ist technischer Angestellter.

Der Junge, kräftig gebaut, erinnert irgendwie an den Leithund in einem Schlittengespann.

„Der läßt sich von den Lehrern nicht unter den Tisch reden", heißt es in der Klasse.

Klaus-Peter ist einer der beiden Schüler, die sich in einer politischen Organisation betätigen (der andere, Wendorff, schloß sich vor kurzem den Jungsozialisten an). Wo andere Schüler die  Wände ihrer Buden mit Pinups tapezieren, da hängen bei Krüger Fotos von Angela Davis, Bilder , aus Vietnam und Biafra.

Über seine Klassenkameraden beschwert sich Klaus-Peter: „Die sind zu lasch. Erst haben sie den Kopf voller Ideen, aber wenn es auf Taten ankommt, macht niemand mehr mit."

Die Studentenproteste Ende der sechziger Jahre haben zwar eine Zeitlang die Politisierung der Oberschüler vorangetrieben. Doch als es an den Universitäten ruhiger wurde, erlahmte auch prompt das Interesse der Gymnasiasten am Klassenkampf oder Vietnamkrieg. Heute haben die wenigsten Schüler der N 12 Lust, sich politisch zu bilden oder gar zu betätigen. Entsprechend schlecht ist es um die Schülerinitiativen bestellt. Die Schülerzeitschrift erscheint nicht mehr, die Schularbeitenhilfe ist eingeschlafen, die Schulsprecher resignieren angesichts der Trägheit der Gymnasiasten und halten es meist nicht länger als ein halbes Jahr in ihrem Amt aus.

Man will das Abitur - aber sowenig wie möglich dafür tun

Geld steht bei allen Plänen im Vordergrund.

So sieht zum Beispiel einer der Schüler aus der N 12 seine berufliche Zukunft:

„Ich habe mir vorgenommen, Chemie zu studieren, mein Diplom zu machen und dann irgendwo in der Industrie dick abzusahnen. Ich habe mich schon gut informiert, man verdient viel, wenn man einen guten Job hat.

Ein Job in der Industrie ist aber nicht die einzige Möglichkeit. Wenn mich jetzt der Bund wegholt, dann gehe ich erst mal zur Luftwaffe. Und wenn es mir da gefallen sollte, dann werde ich mich für zwölf Jahre verpflichten. Ich bin nämlich auf die Abfindung scharf. Und wenn ich dann meine zwölf Jahre abgesessen habe, gehe ich zur PanAm oder so ..."

Das Ende jeder Stunde verkündet ein elektrischer Gongschlag, ein langer, verheißungsvoller Ton, wie er in Kinos den Beginn der Vorstellung anzeigt.

Die Schüler räkeln sich aus ihren Körperstellungen, mit denen sie Aufmerksamkeit vorgetäuscht haben. Sie gähnen herzhaft, Roulett und Schachspiel werden hervorgeholt. Man hält ein Schwätzchen, scherzt, lacht. Der Lehrer verläßt die Klasse und mag sich denken: Mein Gott, wenn sie doch bloß mal im Unterricht so lebhaft wären.

Mathias Grimme pfeffert wütend sein Unterrichtsbuch in die Tasdie. Er hat soeben zum fünftenmal das Schicksal der Geschwister Scholl erörtert. Die Geschwister Scholl sind als Widerstandskämpfer von den Nazis hingerichtet worden. Möglicherweise sind sie umsonst gestorben, meint er. Jetzt bewältigt Mathias Grimme nun schon zum fünftenmal die Vergangenheit. Und zwar nicht die eigene sondern die seines Vaters.

„Das kommt mir vor wie ausgekotzt, wieder gefressen und wieder ausgekotzt."

Grimme wie seine Mitschüler hätten lieber die Frage diskutiert, warum man besser SPD wählt oder wie man am besten den Wehrdienst verweigert.

Diese Schüler sind in einer Umwelt aufgewachsen, die den materiellen Erfolg zum Maß aller Dinge macht. Wenn sie nach Hause kommen, sehen sie ihren Angestellten-Vater sehnsüchtig in Mercedes-Katalogen blättern, obgleich es nur zu einem Opel Rekord reicht.

Die Elle, mit der sie das Leben messen wollen, läßt sich auf die Frage reduzieren: Was bringt das? In der Schule sehen sie keine Institution mehr, die sie auch charakterlich vorwärts bringen könnte, sondern mehr eine Qualifikationsanstalt für spätere akademische Karrieren. „Man will das Abitur machen", sagt Mathias Grimme. „Mehr nicht. Und man will verständlicherweise sowenig wie möglich dafür tun."

Selbst die Eltern klagen, wie angepaßt die jungen Leute sind

Die N 12 des St.-Georg-Gymnasiums ist nicht repräsentativ für alle Oberschüler in Westdeutschland. Aber sie ist auch kein Einzelfall. Immer häufiger klagen Erwachsene darüber, wie resigniert oder materialistisch, angepaßt oder desinteressiert viele junge Leute seien.

Die Gesellschaft hat wenig Grund zu klagen. Sie nimmt es hin, daß die Jugend für Rockmusik schwärmt und die Pille nimmt. Aber sie macht ihnen keine Hoffnungen, aus dem Trott der Väter herauszufinden. Die Jungen wissen, daß es kein Leben ist, wenn sie einmal — wie heute ihre Väter — den ganzen Tag angespannt arbeiten müssen und sich anschließend gleich vor den Fernseher setzen. Aber ebenso wenig wie ihre erwachsene Umwelt wissen diese Oberschüler einen Ausweg aus dieser Misere,

Sie haben Angst, als Spießer mit langen Haaren zu enden.

Der Soziologe Helmut Schelsky hat vor mehr als 15 Jahren einmal das Schlagwort von der „skeptischen Generation" geprägt. Er meinte damit die fugend, die im Nachkriegs-Deutschland, in der Blüte der Adenauer-Zeit heranwuchs. Welches Schlagwort würde für die Jugend von heute gelten? Die resignierte Generation?

  • Der Stern Nr. 51 vom 10.12.1972, S. 64ff
    Ein Bericht von Wolfgang Frank mit Fotos von Michael Ruetz

nach oben