Der Umstand, daß Berlin (noch) keine
Sperrstunde kennt, findet nicht nur den Beifall der familienväterlichen
Kneipengänger aus bieder-bürgerlichen Kreisen. Auch die
Jungen dieser Stadt und insbesondere die zahlreichen Jung-Einwanderer
schätzen die „Sause durch die Nacht". Die typische Eckkneipe tut es in ihrem
Falle freilich nicht mehr. Das hat zur Folge, daß neben den altbekannten
Tummelplätzen in Jazz und Beat eine Reihe von Folklore- und Künstlerlokalen
und vor allem sogenannte „linke" Kneipen entstanden sind.
Es soll nicht Aufgabe dieses
Berichtes sein, eine Strukturanalyse über „Nachwuchs"-Lokale
zu erstellen, als vielmehr einen stimmungsmäßig charakteristischen Abriß
über einige dieser Treffpunkte zu liefern. Die Kategorie „linke" Kneipen ist
insofern mit dem Vorwort „sogenannt" zu versehen, da es sich hier im
Hinblick auf politische Gesinnung keineswegs nur um eine homogen
linksgerichtete Besucherschaft handelt.
Immerhin sind einige
dieser Kneipen bevorzugter Diskussionsraum unterschiedlichster Meinungen.
„HERTHA"
Die aktuelle Entwicklung der „linken" Kneipen findet unter anderem ihre
Vorgänger in der bretterbudengleichen „Försterin", wo vor fast zehn Jahren
im spärlich mit Grünpflanzen kaschierten Gärtchen vor der Kulisse eines zum
„hohlen Zahn" bombardierten Hinterhauses Gesellschaftskritik von angehenden
Musikern, Schauspielern und Architekten geübt wurde. An dieser Stelle in der
Wilmersdorfer Straße wird heute der U-Bahn-Bau vorangetrieben. Mit der
Gründung des RC wurde der „Schotte" in der Schlüterstraße von der jungen Apo
zum Vereinslokal auserkoren. Heute hat die Rolle einer „Gaststätte für
politisch Engagierte", am stärksten ausgeprägt, „Hertha", Schlüter- Ecke
Goethestraße, übernommen. Tische und Stühle wurden einfach auf das Trottoir
gestellt, man holt sich sein Bier selbst vom Tresen, liest die neuesten
Anschläge und weiß sich im übrigen unter Gesinnungsgenossen.
„DESTILLE"
Von hier aus sind es nur ein paar Schritte bis zur „Destille". Eine
kleine gelbleuchtende Ampel verrät den Eingang in der Goethestraße. Mit
Licht wird sparsam umgegangen, der Apfel-Klare — Korn plus Apfelsaft — wird
reichlich ausgeschenkt. Der Stil der Inneneinrichtung entspricht dem eines
verlotterten altenglischen Pubs. In der Ecke steht ein Billardtisch. Die
Kugeln darauf werden stets in Bewegung gehalten. Die
gewerbeaufsichtsbedingte Belüftung besteht aus einem aufgeschlitzten
Ofenrohr, die Entlüftung aus der geöffneten Tür.
„POLKWITZ"
Fünf Minuten in gemütlicher Gangart braucht es von hier bis zum „Polkwitz".
Das rustikale Gasthaus ist eine Gründung des Rixdorfer Druckvereins, dessen
überdimensionale Holzdruckstücke die Dekoration bestimmen. Das elektrische
Klavier funktioniert sogar manchmal. Auseinandersetzungen harmloserer Natur
werden am Flipper oder beim Tischfußball ausgetragen. Die hier versammelten
Barte sind gepflegt, die Männerhaare halblang und gewaschen. Überhaupt kommt
man auch ohne Koteletten und „keimfrei" durch die Tür. Selbst
Krawattenträger sind im „Polkwitz" schon gesehen worden.
„MATALA"
Neben dem chronisch überfüllten „Polkwitz" funktionierte der durch seine
gesellschaftspolitischen Abhandlungen bekannte Ossi Wiener die
Griechenkneipe „Matala" in eine zünftige Kaschemme um. Hier treffen sich die
Wiener Exilgänger, deren Happenings in der Donaumetropole Protest ausgelöst
hatten, bei bekömmlichen „Nockerln" und Csardas von der Schellack-Rille.
..ZWIEBELFISCH"
Nicht zu vergessen in dieser Kneipen-Kollektion rund um den
Kurfürstendamm ist der „Zwiebelfisch", Savignyplatz Ecke Grolmannstraße,
wo sich angehende und arrivierte Literaten treffen. Annemarie Weber, Pablo
Voigt und Wolfgang Graetz halten hier eine regelmäßige Skatrunde ab.
„GALERIE NATUBS"
Dieselben Gäste finden sich zu später Stunde in der um die Ecke gelegenen
„Galerie Natubs", Bregenzer Straße, wieder. Ein riesiger Gipsfinger, einem
Phallus nicht unähnlich, deutet dahin, wo das Altbier in Strömen fließt. In
einem Nebenraum werden Bilder und Graphiken — bevorzugt
politisch-satirischen Inhalts — ausgestellt.
„MARKT"
Im „Markt" am Ludwigkirchplatz hingegen wird bereits mittags kräftig
„gezockt". Wer hier zum Pokern aufgerufen ist, muß mehr Scheine einsetzen
können, als er seinem in dezenter Schäbigkeit gekleideten Partner zutraut.
Es ist — möglicherweise in leichter Übertreibung — überliefert, daß hier der
aussteigende Gewinner mit seinem Erlös bevorzugt rückwärts schreitend das
Lokal verläßt, selbstverständlich die Kanone im Anschlag.
Freilich gibt es noch eine Vielzahl „linker" Kneipen, die in allen
Bezirken in den letzten beiden Jahren entstanden sind. Vornehmlich von
Schöneberg nach Kreuzberg zieht sich über das „Kaffee Kaputt", die „Rote
Ritze" und das „para bellum" ein buntes Band von dererlei Tummelplätzen.
„GO IN" — „STEVE CLUB"
Neben den „psychedelischen Kneipen" und Diskotheken sind heute vor allem
auch „Folkloreschuppen" gefragt. Der „Steve Club" in der Krummen Straße und
das „Go in" in der Bleibtreustraße sind die vielleicht wichtigsten Vertreter
dieser Kategorie. Gesungene Balladen, gesellschaftskritische Lieder,
Reprisen von Otto Reutter sowie Folklore aus aller Welt werden zu Gehör
gebracht. Wandernde Bauchläden in Form von Poster-
und Schmuckverkäufern machen ein gutes Geschäft. Hannes Wader, Reinhard Mey
und Ingo Insterburg bieten eigene Sing-Sang-Kreationen. Während das „Go in"
in immer stärkerem Maße, bedingt durch seine günstige City-Lage, touristisch
geprägt wird, wahrt der „Steve Club" bewußt seine unverfälschte „familiäre"
Note. Auch Jazz von free bis oldtime ist nach wie vor im Schwange und wird
unter anderem im „Quasimodo", im „Litfaß", im „Quartier Latin" und im
„Leierkasten" gepflegt.
„LORETTA"
Für „Lorettas" Garten in der Lietzenburger Straße spielen naturgemäß
Lüftungsfragen keine Rolle. Wer den Garten noch nicht kennt, sollte in
heißen Sommernächten von dem Freiluftausschank der überdimensionalen Laube
Gebrauch machen und seine Beine auf der seitenoffenen Veranda unter einen
der zweckentfremdeten Nähmaschinentische strek-ken. In kühleren
Herbstnächten fallen auch schon mal ein paar Stühle dem Lagerfeuer zum
Opfer, das zumindest im vergangenen Jahr im hinteren Teil des Gartens
loderte.
„KLEINE WELTLATERNE"
Bleibt zum Schluß noch einzugehen auf die typische Künstlerkneipe, die
gewiß -Pate gestanden hat bei der Entstehung der sogenannten „linken"
Kneipe. Von allen derartigen „Glas-Bier-Geschäften", gehen die stärksten
Impulse noch immer von Hertha Fiedlers „Kleiner Weltlaterne" in Kreuzbergs
Kohlfurter Straße aus. In reizvoll gegensätzlichem Nebeneinander hängen von
der Decke bis zum Biertisch allerlei Kunstprodukte. Im Hinterzimmer findet
sich stets Kreuzberger und andere Graphik zu zivilen Preisen. Ulrich
Schamoni, Wolfgang Schnell oder Friedrich
Schröder-Sonnenstern gehen hier ein und aus.
Wirtin Hertha, ihrer Künstlerhilfe wegen auch Engel von Kreuzberg
genannt, steht freundlich lächelnd hinter dem Tresen, auch für
Nur-Bier-Trinker oder Nicht-Kunst-Käufer.
Axel Benzmann
- Der Blickpunkt Nr.
206/Oktober 1971, S. 32f, Zeitschrift des westberliner
Landesjugendrings