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Archiv Rock und Revolte

Die "Berlin Szene" im Spiegel des BLICKPUNKT

 
Heiße Rhythmen - respektabel angeboten
Sechs Stunden gepunktet - meine Ohren sehnten sich nach Ruhe
von Tim


Die Jury

Das war doch wirklich einmal etwas Neues. Ich war eingeladen worden, als Punktrichter in einer großen Amateur-Beat-Band-Show mitzumachen. Musikalische Vorbildung besitze ich durchaus; ich kann Noten lesen und blase auch heute noch an freien Tagen gar zierlich auf der Flöte manch munteres Liedlein. Hin und wieder singe ich sogar im Bad.

Ich also los, auf in die Neue Welt! Fröhlich gestimmt, beschwingten Schrittes betrat ich den riesigen Raum, in dem sich junge und sehr junge Leute bereits tummelten. Man besprach die Chancen der einzelnen Bands, fachsimpelte halt und fühlte sich ganz unter sich. Kaugummi wurde gekaut, Zigaretten hingen in rechten oder linken Mundwinkeln und Mädchen an den Armen ihrer engbehosten Begleitungen. Verantwortliche kümmerten sich sehr nett, erklärten mir das Punktsystem, sorgten für Getränke und meinten gönnerhaft sympathisch: „Wird schon nicht so schlimm werden."

Na ja, ich bin eher an Bachs „Brandenburgische Konzerte" gewöhnt als an die oftmals sehr heißen Rhythmen, die mir hier durchaus respektabel angeboten wurden. Nach einem glucksenden Schluck aus der Coca-Flasche ging es dann los — und wie! Ich hatte Lampenfieber, sozusagen Punktrichter-Lampenfieber.

Ich saß in der Jury, saß etwa sechs Stunden lang auf einem verhältnismäßig harten Stuhl und hatte 21 Beat-Bands zu bewerten. Jede dieser Amateurgruppen spielte drei Stücke, eher laut als leise. Meine Ohren baten bereits nach 60 Minuten um Ruhe, und in meinem Kopf war nur noch Beatle-Musik, Musik von elektrischen Gitarren, Schlagzeug und mehr oder weniger kreischender Gesang.

Wir waren in die Neue Welt eingeladen worden von den Veranstaltungsklubs „Starlighters" und „Comets", hatten dunkle Anzüge angelegt und hockten nun an dem langen Jurytisch ziemlich dicht vor der Bühne; fast unter den Lautsprechern.
Hinter uns, bedrohlich dicht, schafften sich über 1200 junge Leiber, die sich im scharfen Takt schüttelten, mit Schultern und Beinen zuckten, klatschten und pfiffen. Stimmung war da, kra-keelt wurde kaum; man hatte gut organisiert.
Es gab genügend junge Damen und Herren, die mit bestechender Beredsamkeit versuchten, uns, die wir in der Jury saßen, zu beeinflussen. — Wir aber blieben objektiv, mußten wir ja auch.

„Mensch, die ,Beats' haben doch den besten Sound!"

„Quatsch, du bist doof, die Torries' sind ville besser!"

So tönte es hinter unseren Stühlen. Zwei große Lager standen sich also am vierten April in der Neuen Welt gegenüber. Die Anhänger der „Beats" wollten ihre Band auf dem ersten Platz sehen; die Jünger der „Torries" aus Spandau klatschten und kreischten für ihre langhaarigen Lieblinge.

Trotz der schönen lauten Gesang- und Instrumentaldarbietung „Ich bin ich ein Schwein, Baby" mußten sich „The Torries" mit dem rühmlichen zweiten Platz begnügen. „The Beats" gewannen den silbernen Wanderpokal. — Wir, die Jury, hatten entschieden. — Zugaben wurden gefordert und nicht gewährt, Preise verteilt und Siegersekt getrunken. Die „Bräute" der jungen Musikanten strahlten, und die Musiker selbst schienen an den Beifall wohl gewöhnt zu sein.

Pilzköpfige Beatlefrisuren überwogen, die jungen Herren trugen weiße Hemden mit oder ohne Spitzenbesatz; auch die jüngsten Damen bevorzugten Rüschen an den Kunststoffblusen.


The Ten Hands

Es war ausgesprochen seltsam zu beobachten, daß die meisten Amateurmusiker und das Publikum mit verbissenem Ernst bei der eigentlich doch amüsanten Sache waren. Gelacht und gelächelt wurde kaum. Schade!

Allein eine Band, die „Gravediggers" („Totengräber"), ihre Mitglieder sind 13 3ahre alt, war herzerfrischend jung und gar nicht einmal schlecht. Ich hatte Kopfschmerzen und den dringenden Wunsch nach frischer Luft. Getanzt hatte ich nicht, ich saß ja in der Jury, und Bier hatte ich auch nicht getrunken, denn ich wollte mir den klaren Blick für meine Punktrichter-Aufgabe bewahren. Ich hatte also ernsthaft bewertet und war schließlich doch froh, noch in eine ruhige Kneipe gehen zu können, um eben Ruhe und ein kühles Bier zu genießen.


The Gravediggers

Ich trank aus; auf dem Heimweg summte ich: „Ich bin ein Schwein, Baby" (Originaltitel: l am a pik, baby") — Der Rhythmus ging mir nicht aus dem Kopf.

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